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Kolumne

4:0! It´s Revolution, Baby!

Sonntag, 4. Juli 2010 | Text: Roger Lenhard

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Superlative sind nicht steigerungsfähig?! Nach dem überragenden Australienspiel, dem grandiosen, schon als historisch zu bezeichnenden 4:1 gegen England und nun nur vier Tage später das, ja was? Fußballwunder gegen Argentinien? Ich bin selbst einen Tag später noch fassungslos. Diese vier Paukenschläge haben mich erschüttert.

Superlative sind nicht steigerungsfähig?! Nach dem überragenden Australienspiel, dem grandiosen, schon als historisch zu bezeichnenden 4:1 gegen England und nun nur vier Tage später das, ja was? Fußballwunder gegen Argentinien? Ich bin selbst einen Tag später noch fassungslos. Diese vier Paukenschläge haben mich erschüttert. Jetzt weiß ich, es gibt nicht nur die Schreckstarre, sondern auch Glücksstarre.
 
Die Welt um einen herum hört kurzzeitig auf zu existieren, pures Sein von keinem Gedanken angekränkelt. Fußball wie im Rausch – Glücksrauschen. Bambule der Glückshormone gegen den betont nüchternen Blick aus Geschehen. Sprachfähigkeit weggeschossen. Hier sind Wortschöpfer gefragt und Poeten gefordert, diesem Spiel einen angemessenen sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Vor der Macht der Bilder muss ich jedenfalls kaptulieren, deren Rückholung durch bewusstes Erinnerrn mir zwar gelingt, dem Ziel dies sprachlich einzufangen, aber nicht näher bringt. Ein Vergnügen, die Clips im Kopf zu den einzelnen Tore immer und überall abrufen zu können, ist es allemal:

3. Minute, Freistoß:  „Esweinssteiger“ (Maradona) zirkelt den Ball von rechts mit rechts, Müller steigt am höchsten, berührt den Ball ein wenig mit einem seiner Haarbüschel, der nun einen leicht anderen Flugverlauf nimmt und so am Keeper vorbei ins Tor zum 1:0 segelt. Zwischendurch die Augen schließen bis es gelingt, die ganze Sequenz am Stück ablaufen zu lassen. Falls das mit allen vier Toren wiederholt gelingt, wird man in geselliger Runde zu fortgeschrittener Zeit in späteren Jahren nicht dabei Gewesene durch plastische Schilderungen so sehr in den Bann ziehen, dass sie wiederum glauben, dabei gewesen zu sein. Es dauert dann bis zur 68. Minute, ehe Müller am Sechzehner zu Fall kommt. Entgegen sonstiger Gepflogenheiten stimmt Müller weder ein weltliches Klagelied an noch fordert er himmlischen Beistand ein, sondern spielt als Sitzfußballer gedankenfix Richtung Podolski, der Klose zum 2:0 auflegt. Bastian Schweinsteiger verwandelt sich in Felix Neureuther, umkurvt im gegnerischen Strafraum zwei, drei Argentinier, bevor er sich zurückverwandelt und als Schweinsteiger von der Torauslinie Arne Friederich zupasst, der zum 3:0 einschiebt. Arne Friederich kommt als Absteiger zur WM, steigt zum Torversiegeler der Deuschen auf, hilft dem zwischenzeitlichen Tollpatsch Mertesacker bis zur Genesung und beschenkt sich mit einem Tor gegen Argentinien. Jürgen Kohler hat als Fußballgott einen würdigen Nachfolger gefunden. Klose setzte den Schlusspunkt in der 89. Minute zum 4:0 und schoss das 14. WM-Tor seiner drei WM-Teilnahmen.



 

Wer erinnert sich noch an das Testspiel Anfang März gegen die Argentinier? Der Ernstfall zur WM sollte geprobt werden. Die deutsche Elf verlor 1:0. Doch das Ergebnis spiegelte in keinster Weise die Überlegenheit der Argentinier wieder, die sowohl in puncto mannschaftlicher Geschlossenheit und individueller Klasse als auch in taktischer und läuferischer Hinsicht um Klassen besser waren. Es war eine Lehrstunde in Sachen Fußball für die Deutschen. Zu diesem Zeitpunkt konnte der deutschen Mannschaft mit dem Debütanten Thomas Müller wohlwollend Entwicklungspotential zur internationalen Klasse attestiert werden mit der WM als  Reifungsprozess und zur Qualitätskontrolle unter Wettkampfbedingungen. Eine Anwartschaft auf den Weltpokal in Südafrika wurde auf keinen Fall erworben. Eher frisst die Maus den Falken.

 

Drei Monate später hat die Maus zwei Falken in einer Woche gefressen.

Was wir erlebt haben, kommt aufgrund der Veränderungsgeschwindigkeit einer Revolution im deutschen Fußball gleich. Rumpelpumpel wird nach diesem Erlebnisfußball auf höchstem Niveau dem Zuschauer nicht mehr vermittelbar sein. Genausowenig, wie ein 70er-Jahre-James-Bond als Actionfifm nach Matrix vermittelbar gewesen wäre. Was sich 2006 als agierendes, vertikales Spiel mit hoher kollektiver Laufbereitschaft andeutete, bei der EM in Spanien sich scheinbar 
in einem Kokon versteckte, lernt in Südafrika fliegen. Ergänzt wird dieses Spiel durch die im Turnier erlernte Fähigkeit, in der eigenen Verteidigungszone Räume zu komprimieren, um Passwege und damit Einschussmöglichkeiten zu verhindern.
Aber immer verknüpft mit dem Handlungssimperativ: Wann immer die Chance sich bietet, spielt den schnelle Konter! Spiel beruhigen oder schnell machen, mit Kurzpasspiel den Ball in die gegnerische Hälfte bringen oder schnell mit wenig Kontakten. Alles im Repertoire. Forechecking und pressen, um einen z.B. müde werdenden Gegner noch weiter unter Druck zu setzen, genausowenig ein Problem wie sich zurückzuziehen zur Spielberuhigung, um sich zu sammeln und neue Angriffe vorzubereiten.

 



Der stärkste Triumph der jungen Mannschaft ist ihre Lernfähigkeit. Gibt es einen eindrucksvolleren Beleg, als die im Spiel gegen Serbien und Ghana löchrige Abwehr so zu versiegeln, dass diese furchteinflößende Tormaschine der argentinischen Offensive (Messi,Tevez und Higuain schossen in der vergangenen Spielzeit für ihre Vereine zusammen sagenhafte 84 Tore – das ist weit mehr als alle deutschen Feldspieler zusammen) keine nennenswerten Chancen kreieren konnte? Wie auch immer Begegnung am Mittwoch gegen Spanien ausgeht: Diese deutsche Manschaft ist Weltklasse und hat jetzt schon einen Platz sicher in der Hall of Fame des deutschen Fußballsports. In Anlehnung an den Gaucho, den freien Mann, der auf dem Rücken des Pferdes das Land durchreitet, gibt es im argentinischen Fußball „pibe“,  den Burschen, der auf dem Bolzplatz groß geworden ist, das unberechenbare, kreative Spiel liebt und die einschränkenden Fesseln europäischer Diziplin im Fußball verachtet (aus der TAZ vom 01.07.10).


 

In diesem Sinne ist die Niederlage der Argentinier auch eine Niederlage der Mentalität des Bolzplatzes gegenüber der Akribie der Akademie. Es reicht nicht mehr zu sagen: `Ihr seid elf Superfußballer, jeder einzelne ist besser als sein Gegenüber und jetzt geht raus und spielt für Gott und Argentinien.` Bolzplatz ist gut. Bolzplatz und Fußballinternat besser. Wenn dann noch ein Jogi kommt …

 



PS.: Ist in dem modernen Fufball noch Platz für Typen wie Garincha, Georg Best
oder Stan Libuda? Ich habe meine Zweifel. Das wäre dann doch traurig, was sich von sebst versteht.

 

Text: Roger Lenhard

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