„Wir sind doch keine Heimkinder“ – Bewegender Film im Odeon
Dienstag, 19. November 2019 | Text: Reinhard Lüke | Bild: Graf-Recke-Stiftung
Geschätzte Lesezeit: 2 Minuten
Sie bekomme eigentlich nie Besuch von ihrer Schulfreundin, klagt die junge Leonora. Obwohl sie sie immer wieder zu sich nach Hause einlade. Was damit zu tun hat, dass ihr Zuhause eine Wohngruppe in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe ist. Ein Kinderheim, wie man früher sagte. Die Eltern ihrer Freundin hätten Angst, sagt Leonora, dass ihre Tochter dort zu Schaden kommen könnte und würden ihr diese Besuche deshalb verbieten.
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Hacker & Partner – Ausgezeichnete SteuerberatungIn Deutschland leben in solchen Häusern, zumeist in betreuten Wohngruppen, rund 100.000 Minderjährige. Tendenz steigend. Und noch immer leiden sie unter der Stigmatisierung als „Heimkinder“. Die dokumentarische Langzeitbeobachtung „Wir sind doch keine Heimkinder“ zeigt, dass Horror-Szenarien früherer Jahrzehnte mit der aktuellen Wirklichkeit in solchen Einrichtungen nichts mehr gemein haben. Der 52minütige Film von Anke Bruns ist eine Auftragsproduktion der Düsseldorfer Graf Recke Stiftung, die mehrere solcher Einrichtungen im Rheinland unterhält.
Vorurteilen und Tabus entgegen wirken
„Ich habe vor Jahren mal einen Film mit der Stiftung zum Thema ,Partizipation mit Kindern und Jugendlichen‘ gemacht“, erklärt Anke Bruns im Gespräch mit MeineSüdstadt. „Schon damals kam die Idee auf, dass man sich mit dem Thema Heimerziehung mal grundsätzlicher beschäftigen müsste.“ Michael Mertens, Geschäftsführer des Bereichs Erziehung und Bildung der Stiftung, sagte, er habe nicht den Eindruck, dass der Öffentlichkeit, die noch immer von Kinderheimen spreche, klar sei, wie Kinder und Jugendliche heute in den Einrichtungen lebten. Aus dieser Überlegung ist nicht nur der Film, sondern eine Initiative entstanden, die sich zum Ziel gesetzt hat, in Schulen und im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen den diesbezüglich noch immer vorhandenen Vorurteilen und Tabus entgegen zu wirken.
Dreharbeiten dauerten zwei Jahre
Zu Beginn der zweijährigen Dreharbeiten, so Anke Bruns, sei ihr nicht bewusst gewesen, in welchem Maße die betroffenen Kinder noch heute mit diesen Vorurteilen zu kämpfen hätten, so dass sie ihre Lebensumstände lieber geheim hielten, um sich vor Ausgrenzungen zu schützen. Wie das im Alltag aussieht, wird in einer Sequenz des Films plausibel, in der in einer Schulklasse, die zwei Bewohner der Einrichtung besuchen, die andere Schüler nach ihren Vorstellungen von heutiger „Heimerziehung“ befragt werden. Da treten noch immer die alten Vorstellungen von Schlafsälen, Zwangsarbeit, bitterer Armut und Drill zutage. Und Zugang zu Errungenschaften wie Handy und Playstation hätten die ja wohl auch nicht. Was, wie ihre beiden Mitschüler ihnen versichern, alles mit der Wirklichkeit absolut nichts zu tun hat.
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Lotta wünscht sich was – Köstlichkeiten aus deutschen ManufakturenAber weil sich die Vorurteile nun mal so hartnäckig halten, ist das Ganze mit der Volljährigkeit und dem Auszug der Bewohner längst nicht erledigt. „Zu den 100.000 aktuellen Betroffenen“ so Anke Bruns, „kommt schließlich noch die weitaus größere Zahl der ehemaligen Bewohner, die den Stempel für den Rest ihres Lebens auf der Stirn tragen. Wie etwa Herbert und Ilse, die in den 60er Jahren in Kinderheimen der Graf Recke Stiftung grausige Erfahrungen gemacht haben und deren Schilderungen zu den bewegendsten Momenten des Films gehören. So erinnert sich Herbert an das Wimmern eines Jungen im Bett neben ihm, der nächtens regelmäßig die sexuellen Übergriffe eines Erziehers über sich ergehen lassen musste. Und Drill und Prügel seien damals ohnehin an der Tagesordnung gewesen, sagt der Mann. Fast noch beklemmender ist das Bekenntnis der vital wirkenden Seniorin Ilse, die erklärt, dass sie aus Scham sogar Ehemann und Sohn bis vor zwei Jahren verheimlicht hat, ein Heimkind (gewesen) zu sein. Das nahezu lebenslange Martyrium, das sich hinter solch einem Leben verbirgt, lässt sich in all seinen Facetten nur schwer ausmalen.
Nach dem Film Gespräch mit der Autorin und anderen
Die bewegende Dokumentation „Wir sind doch keine Heimkinder“ ist morgen, Mittwoch, um 18 Uhr, als einmalige Vorführung im Odeon zu sehen. Im Anschluss findet ein Gespräch mit der Autorin, Pädagogen und Jugendlichen der Diakonie Michaelshoven sowie dem stellvertretenden Leiter des Kölner Jugendamtes statt. Der Eintritt ist frei. Um vorherige Anmeldung unter bruns@wir-sind-doch-keine-heimkinder.de wird gebeten.
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