„Was die Regierung macht, ist Totschlag“
Donnerstag, 19. Dezember 2019 | Text: Stefan Rahmann | Bild: Stefan Rahmann
Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten
Südstadtpfarrer Hans Mörtter nahm wie gewohnt kein Blatt vor den Mund: „Was die Regierung macht, ist Totschlag, weil sie das Ertrinken der Flüchtenden im Mittelmeer tatenlos hinnimmt.“ In die Lutherkirche in der Kölner Südstadt waren außer Mörtter der evangelische Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger, der katholische Stadtdechant Robert Kleine sowie Laura Gey und Johannes Graevert von der „Seebrücke Köln“ gekommen, um die Aktion „Jeder Mensch hat einen Namen“ anlässlich des „UN-Tags der Migranten“ vorzustellen. Jüngst hatten Mitglieder der „Seebrücke Köln“ ein Banner an den Turm der Lutherkirche gehängt, um auf das Sterben der Flüchtenden im Mittelmeer hinzuweisen. Und das gestaltete sich ausgerechnet an einem Sonntag schwieriger als gedacht.
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Privatpraxis für Physiotherapie Frauke StöberAusgerechnet während des Gottesdienstes wollten die Seebrücke-Leute in den Turm steigen, um das Banner zu befestigen. Sonntags läuten allerdings naturgemäß in einem Kirchturm häufiger die Glocken. Eine Viertelstunde vor Gottesdienst-Beginn. Kurz vor Gottesdienst-Beginn. Dann wurde in der Lutherkirche ein Kind getauft. Mit Glockengeläut. Dann kam das Vaterunser. Natürlich mit Geläut. Und wieder mussten die Banner-Hänger aus dem Turm flüchten. Ohenbetäubender Lärm. Aber am Ende ging alles gut und das Banner hing weithin sichtbar. In von unten nicht lesbaren Kästchen wurden die Namen von Menschen eingetragen, die auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken sind.
Dr. Seiger und Kleine haben kürzlich eine gemeinsame Erklärung von evangelischer und katholischer Kirche in der Stadt Köln zur Seenotrettung und für eine humane EU-Flüchtlingspolitik mit der Überschrift „Jedes Leben zählt“ unterzeichnet. Dr. Seiger stellte die Erklärung vor. 15.000 Menschen seien in den vergangenen fünf Jahren nach Schätzungen der UN-Flüchtlingshilfe bei der Überfahrt mit Flüchtlingen über das Mittelmeer gestorben oder verschollen. Genaue Zahlen kenne niemand. Der Stadtsuperintendent lobte zivilgesellschaftliche Initiativen wie die „Seebrücke“, die sich für sichere Fluchtrouten und Entkriminalisierung der Seenotrettung einsetzten.
„Kein Mensch setzt sich und seine Familie leichtfertig der vor allem jetzt im Winter lebensgefährlichen Flucht über das Mittelmeer aus. Kein Mensch setzt sich und seine Familie leichtfertig der vor allem jetzt im Winter lebensgefährlichen Flucht über das Mittelmeer aus. Wer seine Heimat verlässt und sein ganzes bisheriges Leben aufgibt, hat dafür immer einen triftigen Grund. Menschen, die auf der Suche nach Sicherheit und Schutz vor Verfolgung, nach Frieden und Perspektiven für ein neues Leben in Freiheit und Selbstbestimmung zu uns kommen, verdienen zuallererst unsere Aufnahme, Hilfe und Unterstützung. Die humanitär gebotene Seenotrettung im Mittelmeer sollte seitens der EU wiederaufgenommen werden. Erst in weiteren Schritten geht es um die Prüfung der Fluchtursachen und eine Entscheidung über die Zukunft der geflüchteten Menschen“, fasste Dr. Seiger die Forderungen beider Kirchen zusammen und betonte, dass katholische und evangelische Christinnen und Christen die zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Organisationen unterstützen, die sich für die Rettung und den Schutz von Geflüchteten einsetzen.
„Wir fordern die Politiker auf europäischer und bundesdeutscher Ebene auf, sich für sichere Fluchtrouten und eine humane Flüchtlingspolitik einzusetzen. Angesichts der Notlage im Mittelmeer müssen Menschlichkeit und Nächstenliebe Vorrang haben.“ Die Bekämpfung der Fluchtursachen sei eine globale Aufgabe, die aber nicht als Ausrede dafür herhalten dürfe, dass Menschenrechte an EU-Grenzen nicht mehr gelten würden und Menschen nicht aus Seenot gerettet würden. Als Christinnen und Christen erhebe man die Stimme immer dann, wenn Menschen in ihrer Würde und Freiheit verletzt würden. „Für uns in der Stadt Köln bedeutet das, aufmerksam und sensibel zu sein für die Bedürfnisse der Menschen, die zu uns kommen. Gemeinsam müssen wir in der Politik, in den Kirchen, in der Wirtschaft und vielen gesellschaftlichen Gruppen dafür arbeiten, dass Menschen, die auf Zeit oder dauerhaft mit uns leben, hier eine neue Perspektive, Schutz und Sicherheit finden. Denn jedes Leben zählt.“
Die christlichen Kirchen sähen jeden Menschen als Gottes Kind. Hinter jeder Flucht stehe ein Schicksal. „Wir müssen dem dumpfen Gerede über Fluchtursachen entgegen treten.“ Stadtdechant Kleine betonte, dass den Flüchtenden im Mittelmeer zuallererst mit Nächstenliebe zu begegnen sei. „Das berührt unser christliches Selbstverständnis.“ Die Zahl von 15.000 qualvoll Ertrunkenen im Mittelmeer „lässt einen sprachlos werden“. Es gelte das Worte Jesu „Was Ihr von anderen erwartet, das tut auch an ihnen“. Kleine prangerte die Zustände in vielen Flüchtlingslagern an, die im eklatanten Gegensatz zu den Verhältnissen in den reichen Industrieländern stünden. Dort hätten sich die Begrifflichkeiten verschoben. „Es gibt eine Verschiebung beim Reden von dem Wert des Lebens. Wenn bei uns eine Gewalttat geschieht, wird zuerst gefragt, welche Nationalität der Täter hat. Es gibt eine Unterscheidung zwischen uns als den Guten und den anderen, den Bösen. Und das Böse kommt über das Mittelmeer. Das ist unerträglich.“
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SchokoladenmuseumJohannes Gaevert war kürzlich noch auf einem Schiff im Mittelmeer unterwegs und hat 84 Menschenleben gerettet. „Darunter waren sehr viele Kinder, Jugendliche und junge Frauen.“ Eigentlich ist er dafür zuständig, die Einsätze fotografisch und filmisch zu dokumentieren. „Ich war im Beiboot, das zu dem Flüchtlingsboot fuhr. Ich habe zwei Kinder auf dem Schoß gehabt und kam nicht dazu, Fotos zu machen oder zu filmen. Die Rettung der Kinder hatte natürlich Vorrang.“ Er hat unter den Geflüchteten viele getroffen, die nach mehreren Jahren in libyschen Lagern gesagt hätten, „dass sie lieber auf dem Mittelmeer sterben möchten als in der Hölle von Libyen“. Graevert betonte die Wichtigkeit zivilgesellschaftlichen Engagements in der Seenotrettung. „Die staatlichen Institutionen halten sich komplett raus.“ Laura Gey pflichtete ihm bei: „Es ist mittlerweile politischer Mainstream, Seenotrettung zu kriminalisieren. Gesellschaftlich und politisch verschieben sich die moralischen Vorstellungen davon, was richtig und falsch ist. Aber es gibt auch ein anderes Europa. Eines, das Empathie zeigt und die Würde der Flüchtenden achtet. Die Menschen haben Namen. Und sie sind keine Flut oder Welle.“
Mörtter erinnerte an die Vergangenheit. „Ein Rupert Neudeck war der Held, als er mit der Cap Anamur boat people rettete. Kapitänin Carola Rackete gilt heutzutage bei einigen als Verbrecherin.“ Italien habe mit der Seenotrettungs-Aktion „mare nostrum“ gezeigt, was möglich sei. Die EU jedoch habe Italien „brutal im Stich“ gelassen. „Es geht auch um unsere Seelen. Auch unsere Seelen ertrinken im Mittelmeer und verdursten in der Wüste.“ Jeder könne sich kundig machen. Mörtter forderte Gedenktafeln für gestorbene Flüchtende in allen Städten der Republik. Und Schluss mit dem „dummen Gerede davon, dass wir nicht alle aufnehmen können“: „Ja was denn? Sollen wir die anderen ertrinken lassen?“
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Kommentare
1. Wenn die im ersten Absatz genannten Anwesenden tatsächlich der Ansicht sind, dass die Bundesregierung im Mittelmeer durch welches Verhalten auch immer Totschlag begeht, wenden sie sich bitte an entsprechende nationale oder internationale Gerichte.
2. Für den Fall der behaupteten unterlassenen Seenotrettung gilt das gleiche. Ausschlaggebend ist nicht moralisches Empören, sondern internationale Vereinbarungen.
3. Bitte erklären Sie folgendes Paradoxon, welches vor wenigen Tagen eine empirische Studie explizit formuliert hat: der auch in Nordafrika bei Schleppern sehr beliebte „Shuttleservice“ der europäischen Länder sorgt demnach erst durch die Inanspruchnahme der Schlepperaktivitäten für die hohe Zahl an Todesopfern! Anders gesagt: kein Shuttleservice, keine Nachfrage. Wie lautet Ihrer Meinung nach die Lösung? Wofür benötigt die evangelische Kirche ein eigenes „Rettungsschiff“?
4. Niemand hat behauptet, dass das „Böse“ über das Mittelmeer nach Europa resp. Deutschland gelangt. Das klingt eher nach einer Verallgemeinerung, um andere Meinungen schon im Ansatz zu diskreditieren. Obwohl die Überfahrt dreier Schwerstkrimineller mit Carola Rackete nach Italien zu denken gibt und zu einer weiteren Frage führt: wie unterscheiden Sie zwischen Hilfsbedürftigen, Flüchtenden und Kriminellen? Oder spielt das keine Rolle?
5. „Wenn bei uns eine Gewalttat geschieht, wird zuerst gefragt, welche Nationalität der Täter hat.“ Ehrlich gesagt, dass ist schon gar nicht mehr nötig und genau genommen bringt es auch gar nichts, weil die Staatsbürgerschaft immer öfter nicht mehr zuverlässig die Herkunft oder Abstammung indiziert. Sinnvoller ist die Nennung des Vornamens mit abgekürztem Nachnamen (also z.B. Peter A., Franz B. oder Johannes C.). Sichere Indikatoren sind dazu die Umstände der Tat, die Tatwaffen und die Art der Durchführung. Ob man will oder nicht, die meisten Bundesbürger erkennen mittlerweile daran mit einer hohen Trefferquote, welche Klientel Gewalttaten begeht. Insgesamt ist die Kriminalität in Deutschland zurückgegangen, das gilt allerdings nicht für die Gewaltkriminalität, die stetig ansteigt. Hierbei sind ca. 10 nationale Herkunftsländer überproportional zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung führend. Wie erklären Sie sich diesen Befund? Wie ist Ihr Lösungsvorschlag?
6. Der Anteil von „Kindern, Jugendlichen und jungen Frauen“ mag unter den neulich geretteten 84 Menschenleben „sehr viele“ gewesen sein (warum wird eigentlich nicht der genaue Anteil genannt?). Tatsache ist jedoch, dass auf allen Routen (also Land- und Seewege) die Anzahl der Männer bei mindestens 85 % liegt, die i.d.R. sowie die übrigen 15 % keinerlei Papiere mitführen. Für Deutschland bedeutet das pro Jahr den Zuzug ca. einer neuen Großstadt bzw. 180.000 Menschen (ohne Berücksichtigung von späteren Familienzuzüglern, „Resettlementprogrammen“ der Bundesregierung u.a.). Um es ganz deutlich zu sagen: die finanziellen Kosten tragen alle hier lebenden Steuerzahler, von den sozialen Kosten, der zu befürchtenden Auswirkung auf die Entwicklung der Gewaltkriminalität für die Allgemeinheit u.v.a.m ganz zu schweigen.
Wenn man das wirklich will, dann sollten darüber nicht Kirchen und NGOs abstimmen (weder Nächstenliebe noch Partikularinteressen sind eine ausreichende Grundlage), sondern unter vorheriger Nennung sämtlicher potentieller Konsequenzen sollte m.E. deutschlandweit von den Wählern darüber abgestimmt werden. Ob sich das jemand traut?