Men in Black – Walzer tanzen auf dem Abi-Ball. Eine Erkenntnis.
Mittwoch, 27. Juni 2012 | Text: Jens Rosskothen | Bild: meinesuedstadt.de
Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten
Ich sitze in unserem Wohnzimmer auf einem Stuhl vor dem Spiegel und binde eine Krawatte. Ich binde sie, löse sie, binde sie, löse sie. Schweiß bildet sich in den Handinnenflächen, der Blutdruck steigt, und eine Ader auf meiner Stirn tritt deutlich hervor. Dieser dämliche Krawattenknoten will mir einfach nicht gelingen. Ein weiteres Mal sitzt er schief und hämisch grinsend unter meinem weißen Hemdkragen. Perfekt soll er sein, perfekt wie alles andere heute. Doch die Zeit wird knapp. In diesem aussichtslosen Kampf bleibt der schiefe Krawattenknoten Sieger, und ich ächze ein ‚wir können gehen‘ in die Weiten stiller Anspannung.
Doch was war geschehen?
Stand ich kurz davor, meine langjährige Beziehung doch noch vor dem Traualtar zu bejahen? War ich auf dem Weg zu einer aussichtsvollen Grammyverleihung? Oder trieb mir gar die Hochzeit meiner Stieftochter Schweißperlen auf die Stirn, die ich gleich mit lächerlich schiefem Krawattenknoten zum Standesamt führen würde?
Weit gefehlt, denn das anstehende Ereignis war weit größer, weitreichender und in seiner Bedeutung außerhalb unserer Dimension. Wir waren auf dem Weg zum ABI-Ball des Kaiserin-Augusta-Gymnasium.
Jene Stieftochter, die ich im Folgenden Tochter nennen werde, denn der Stiefvater nutzt die Freiheit des Wortes als Ausdruck von Stolz und Liebe, jene Tochter also hatte zu diesem Zeitpunkt ihr Abitur in der Tasche und gedachte dies mit gesamter Stufe und Anhang gebührend zu feiern.
Klar, dachte ich im Vorfeld, da werden wir mal generationsübergreifend miteinander tanzen, lachen und die jungen Leute im Suff des Erwachsenseins begrüßen. In der Aula der Schule wahrscheinlich, und ich in der Jeans, die meinen Hintern so überzeugend verjüngt.
Dachte ich und verbrachte die folgenden Wochen damit, meine aus der Form geratenen Vorstellungen maßschneidern zu lassen. Aus weiter Ferne vernahm ich Worte wie „Gürzenich“, „Anzug“ und „Ballkleid“.
Zunehmend waren unsere familiären Gespräche bestimmt vom Design edlen Tuches. Kreative Frisuren und innovative Schuhmode wurden diskutiert. Ich verbrachte Stunden in trotziger Isolation. Frau und Tochter verbrachten Stunden in den Modetempeln der Stadt.
Je näher die Festlichkeit rückte, umso mehr bestimmte die entsprechende Abendgarderobe unseren Alltag.
„Ich habe heute kein Foto für Dich“, raunte mir morgens mein Spiegelbild entgegen.
Ich versuchte Gelassenheit auszustrahlen, als meine Tochter mir mitteilte, daß das T-Shirt unter dem Anzug doch wohl besser durch ein Hemd zu ersetzen sei.
Kostume Lagerraum. Radio City Music Hall, Manhattan, New York City. / Foto: Andreas Praefcke.
Bei meiner eigenen Abiturfeier, unspektakulär innerhalb der Schule ausgerichtet, hatten wir uns alle über meinen damaligen, besten Freund Thomas amüsiert, der im Anzug erschienen war. Ich trug immerhin ein Sakko, auf Anraten meiner Mutter.
Und nun sollte ich auf Anraten meiner Tochter ins Outfit einer uniformierten Oscarverleihung schlüpfen?!
Doch Rebellen sind jung.
Wie sieht man mit Mitte vierzig aus, wenn man unter hundert jungen Menschen im feinen Zwirn provokant gegen die Kleiderordnung verstößt? Und überhaupt, ich mag Anzüge.
Also war ich angesteckt vom Fieber der gedankenbestimmenden Vorbereitungen.
Den Anzug lieh ich mir bei meinem Bassisten, die Schuhe bei unserem Nachbarn. Schwarzer Anzug, schwarze Schuhe, schwarze Krawatte, weißes Hemd. Klassisch und doch irgendwo zwischen Bluesbrothers und Will Smith in Men in Black. Denn im Untergang des Widerstands gegen eine Abifeier, die mir im Vorfeld erschien wie ein von amerikanischen Eliteuniversitätsabsolventen ausgerichteter Opernball, blieb ich doch eitel.
Und so standen wir nach Wochen der gedanklichen und modischen Auseinandersetzung mit dieser Festlichkeit schließlich im Foyer des ehrwürdigen Gürzenich.
Meine Frau und meine Tochter sahen bezaubernd aus und überragten mich dank hoher Absätze. Und mein Sohn und Bruder der betörenden Abiturientin, der mich dank der Gene seiner Mutter bald auch ohne Absätze überragen wird, beobachtete freudig gespannt und mit perfekt sitzendem Krawattenknoten die durchweg elegant gekleidete Schar. Und ich als Tom Cruise zwischen einer dunkelhaarigen und einer blonden Nicole Kidman daneben. Irgendwie auch ein bißchen James Bond ohne Auftrag mit schief sitzendem Krawattenknoten. So etwas in der Art. Zumindest ratlos.
Doch was soll ich sagen, es wurde ein schöner Abend.
Klar, gemessen an der wochenlangen Aufregung, wirkte der eigentliche Ball ein wenig wie hoffentlich das kommende Sylvesterfest. Monatelang Sorgen gemacht, und plötzlich steht man da mit der Einsicht, die Welt ist doch nicht untergegangen. Ratlos fällt man in das nicht eingeplante Danach.
Aber es wäre zu leicht, diesen ABI-Ball nur ironisch zu kommentieren. Es war teuer, es war gediegen, und der Zwang der einem Ball angemessenen Garderobe wirkte zeitweilig, als würde er weder der einen, noch der anderen Generation gerecht.
Man kann das in seiner augenscheinlichen Angepasstheit kritisieren, vielleicht sogar sorgenvoll betrachten. Doch das wäre nur ein distanzierter und somit reduzierter Blick auf das Geschehen.
Wir haben getanzt im Gürzenich. Jung, alt, und alle, die dazwischen liegen. Das war zwanglos und machte riesig Spaß. Es wurden alte Fotos unserer Kinder gezeigt, kurz nach der Einschulung ins Gymnasium. Das machte melancholisch.
Ich überlegte, ob meine Toleranz meiner Tochter gegenüber größer wäre, wenn sie jetzt als Punk hier säße. Und ich erinnerte mich, daß ich ihr mal einen song gewidmet habe, der „Punk“ heißt und davon handelt, letztlich seinen Weg zu gehen, authentisch und unbeirrt. Und da sah ich sie vor mir. Ein leiser Punk im Abendkleid. Und ich sah in andere junge Gesichter, und völlig individuelle Charaktere pellten sich aus der Uniformiertheit. Ich sah in strahlende Augen, die sich die Zukunft erträumen. Und ich wußte, ich kann mich über diesen ABI-Ball nicht lustig machen.
An anderer Stelle hätte ich vielleicht sogar garstige Gesellschaftskritik auf das Blatt erbrochen. Aber an dieser Stelle befand ich mich nicht mehr.
Im Foyer des Gürzenich wurden gegen Mitternacht Fotos aufgestellt, die ein nerviger Fotograf während des ABI-Balls gemacht hatte und nun zum Verkauf anbot. Ich entdeckte mich auf einem dieser Fotos und betrachtete es lange. Alt bin ich geworden, dachte ich. Alt, aber nicht erwachsen. Wo ist der Punk in mir, dachte ich. Wie soll der Krawattenknoten perfekt sein, wenn man schon längst den perfekten Knoten im Bauch hat, entstanden durch das ständige Relativieren der eigenen Träume?
Ich werde mich mal wieder auf den Weg machen müssen, dachte ich. Träumend die eigenen Visionen erforschen.
Dann ist es egal, ob ich hier im Anzug, im selbstgestrickten Pulli oder nackt stehe.
Dann werde ich einen ABI-Ball vielleicht kritisieren können. Ohne die Arroganz des vermeintlich Wissenden mit angestaubter Lebenserfahrung.
Bis dahin, geliebte Tochter, danke ich Dir für diese Erkenntnis. Ich hatte einen schönen Abend.
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