urban design mit Felsbrocken und Blaskapelle
Samstag, 29. November 2014 | Text: Dirk Gebhardt | Bild: Boris Sieverts
Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten
Solche Veranstaltungen braucht das Land: Hochspannend, superaktuell und voller Ideen für die urbane Zukunft. „Wer gestaltet die Stadt?“ – das war der Titel des Symposiums in der KISD, der Köln International School of Design am Ubierring. Einen ganzen Tag lang diskutierte ein gut gefüllter Saal von kreativen Köpfen über die Frage, was wir Bürger tun können, um unsere Stadt weiterzuentwickeln, sprich: wie wir uns beteiligen können am urban design.
Ein tolles Beispiel: der Vortrag von Boris Sieverts. Er ist Schäfer und Reiseführer und hat für die europäische Kulturhauptstadt „Marseille Provence 2013“ ein sehr ungewöhnliches Projekt verwirklicht. Er hat 18 Monate lang immer wieder in einem Viertel am Rand der Stadt gearbeitet, in dem früher ein Flüchtlingslager lag. Das Ziel: sich einen urbanen Raum erschließen und die Menschen dort zusammenbringen und für ihre eigene städtische Umgebung sensibilisieren.
Eine verdammt schwierige Aufgabe, denn der Stadtrand von Marseille ist nach seinen Worten ein Flickenteppich von Enklaven, also eine Fülle von kleinen, abgegrenzten Räumen. „Unser Projektgebiet im Süden hatte keine räumliche Kohärenz, keine soziale Kohärenz und keine funktionale Kohärenz.“ Am Beispiel Raum: Das Areal ist von vielen alten Mauern durchzogen, die einst Landsitze voneinander abgrenzten. Darum gibt es eine Menge schmale Straßen und Sackgassen. Am Beispiel Gesellschaft: Dort liegt nicht nur das ehemalige Flüchtlingslager, das mittlerweile zum sozialen Wohnungsbau geworden ist. Dort liegen auch viele Einfamilienhäuser – alles dicht beieinander.
Was die vier Projektplaner (neben dem Kölner Boris Sieverts noch zwei aus Berlin und einer aus Paris) dann aber doch fanden, war eine ästhetische Kohärenz. „Uns erinnerte das Gelände an einen Park, und wir haben wiederkehrende Strukturen entdeckt.“ Die Planer benannten unter anderem diese Elemente: Bäume, Wege, Feuer, Wasser, Mauern, Kreisel, Steine, Skulpturen. Ein Inventar des urbanen Raumes, Standort Marseille-La Cayolle.
Wie mobilisiert man die Bevölkerung für ihr eigenes Terrain? Boris Sieverts verbrachte viel Zeit mit einer Schulklasse. Er ging mit den Schülern wandern – durch das Gewerbegebiet, durch die Felsen, durch das benachbarte Dorf. Sie entdeckten hinter einer Mauer einen Blumengarten, dessen Besitzer den Schülern „Themensträuße“ überreichte.
Besonders gut klappte auch der Besuch in einem Fischerdorf, wo die Schüler in einem kleinen Raum des Heimatvereins plötzlich doch noch Kontakt zu den älteren, belesenen Vereinsmitgliedern aufbauten: „Am Anfang haben die Schüler die angesehen wie UFOs, und dann wurde es sehr intensiv, weil sie in diesem Vereinszimmer zum Beispiel Fotos von Orten entdeckten, die sie kannten.“ Oder: Alle saßen auf einer Wanderung zusammen oben auf der Felskante und schauten hinunter auf das Land. Diesen Abstand zu ihrer Heimat hatten die Schüler noch nie gehabt – und begannen gleich, darüber zu sprechen und zu reflektieren.
In dem Projektjahr entstanden auch Dinge: ein Ofen, eine Betonskulptur, Schilder mit Fotos von der Gegend, die in der Gegend selbst aufgestellt wurden. An erster Stelle aber stand ein Pavillon aus Holz mit einer Bar. Den Pavillon haben sie mitten in der Infrastruktur gebaut, zwischen dem großen Supermarkt, dem sozialen Wohnungsbau und dem Gewerbegebiet.
„Am Ende haben die Bürger das Projekt übernommen“, erzählt Boris Sieverts. Der Auslöser waren ein Felsbrocken und eine Blaskapelle: Mit den Musikern machten die Projektplaner einen Umzug, bei dem viele Leute dazukamen. Und auf dem Umzug wurde die Miniatur eines legendären Felsbrockens aus der Gegend herumgetragen (der Stein heißt „pierre tombée“, gefallener Stein, und es gibt viele Geschichten über ihn).
Plötzlich wollte jeder Bürger ein Foto von sich mit der Miniatur dieses „pierre tombée“ – und das Eis war gebrochen. Danach lief das Projekt von selbst, es wurde gekocht und diskutiert in diesem Pavillon – und die zwei Wochen, in denen er geöffnet war, klappten wunderbar. Und direkt daneben stand der „Pierre tombée“, den einer der Künstler nachgebaut hatte.
Boris Sieverts hat wichtige Lehren aus der Arbeit in Marseille gezogen: Erstens muss der Zugang zu solchen Projekten für die Menschen sehr niederschwellig sein. Und zweitens muss es einen „Gastgeber“ geben, also einen Menschen, einen informierten Ansprechpartner, der rund um die Uhr am Ort ist und Fragen beantworten kann. Dann kann die Landnahme funktionieren. In der KISD gab es viel Applaus für das Referat von Boris Sieverts.
Auch die anderen Vorträge kamen bei den mehr als 100 Zuhörern sehr gut an – zum Beispiel der von Alexander Follmann vom NeuLand-Garten in der Südstadt, ebenfalls so eine Landnahme im urbanen Raum. Und es ging auch um elektronische Teilhabe, um sogenannte „crossmediale Partizipationsverfahren“ und um Stadtentwicklung mithilfe von Crowdsourcing.
Fazit: Mehr davon. Kompliment an die KISD und die Macherinnen und Macher dieses spannenden Tages.
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Hier noch einmal das Programm und die Referenten mit ihren Abstracts zum Nachlesen.
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