Diese Frau kann OB
Mittwoch, 15. April 2015 | Text: Stefan Rahmann | Bild: Dirk Gebhardt
Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten
Der Saal ist voll, die Kandidatin angespannt. Die Büroklammer, mit der sie spielt, muss einiges aushalten. Später wird sie sagen, dass dies ihr „erster richtiger Wahlkampfauftritt“ ist. Sie wird sich daran gewöhnen müssen. Henriette Reker will im September Kölns erste OberbürgermeisterIn werden. In diesen Tagen beginnt der Kampf um das höchste Amt der Stadt. Auf Einladung der „Freien Wähler Köln“ (FWK), die ihre Kandidatur unterstützen, ist Reker in den Gemeindesaal der Lutherkirche gekommen, um ihr Programm vorzustellen. So steht es in der Einladung. „Falsch“, sagt sie: „Ein klassisches Wahlprogramm habe ich nicht. Ich werde das vorschlagen, was ich für richtig halte. Ich bin fachlich bestens vernetzt, politisch allerdings nicht.“ So viel Unterschied muss sein, gleich zu Beginn. Das hat neben den Freien Wählern auch die CDU, die FDP und die Grünen davon überzeugt, Reker auch zu ihrer OB-Kandidatin zu machen.
Andreas Henseler, einziges Ratsmitglied der FWK und als ehemaliger Kölner Schuldezernent auf damals SPD-Ticket wahrlich politschlachtenerprobt, begrüßt die Kandidatin: „Ich freue mich, dass die erste Oberbürgermeisterin Kölns unserer Einladung gefolgt ist.“ Nach dem allgemeinen Gelächter ist Reker am Zug. Sie spricht von 2004, dem Gründungsjahr der FWK, und den damaligen Bürgerprotesten gegen die Hartz-IV-Gesetze. „Parteienmüdigkeit“ nennt sie als Stichwort und leitet über zum Thema Bürgerbeteiligung: „Viele politische Entscheidungsträger kommen aus einer Zeit, da konnte man Entscheidungen noch per Dekret verkünden. Das geht heute nicht mehr. Politik und Verwaltung müssen Bürgerbeteiligung nicht als Störung, sondern als Anregung verstehen. Das Gespräch mit der Stadtgesellschaft birgt großes Potenzial. Eine breite Bürgerbeteiligung führt am Ende auch zu guten Entscheidungen. Die Politik muss die Arroganz der Macht ablegen.“
Die Kandidatin nimmt Fahrt auf und arbeitet mit fester Stimme Punkt für Punkt ab: Köln – toller Standort in Europa; Verkehrskreuz des Westens; Chinesen, mit denen sie gesprochen hat, kennen Nordrhein-Westfalen nicht, aber Köln; tolerante und weltoffene Stadt, die wir lieben; die Stadt, die wächst und weiter in der Art…
Warum gibt es in Köln eigentlich keine politische Rede ohne den immer gleichen heimatbesoffenen Start? Es sind nicht die stärksten Momente der Kandidatin. Das wirkt bei ihr ein wenig hölzern, von Beratern aufgeschrieben und auswendig gelernt. Kann man weglassen.
Das ganz und gar lebensnahe Thema „Bezahlbarer Wohnraum für alle“ liegt ihr als Sozialdezernentin deutlich besser. Und taugt auch für einen Seitenhieb auf den Konkurrenten: „Jochen Ott hat den bezahlbaren Wohnraum jetzt auch für sich als Thema entdeckt. Nach zehn Jahren GAG-Aufsichtsratsvorsitz. Ich freue mich darüber, weil das Thema wichtig ist.“ Das sind die Bereiche, in denen sie sich auskennt. „Bildung ist wichtig, um soziale Ungleichheiten zu kompensieren. Und wir müssen Gemeinsamkeiten finden mit allen, die zu uns kommen. Nicht zuletzt mit den Flüchtlingen. Alle müssen stolz sein auf ihre Stadt.“ Verwaltung ist natürlich auch ihr Ding. Da sieht sie, wie wahrscheinlich jeder, Optimierungsbedarf: „Die Verwaltung muss einfach professioneller geführt werden. Wir müssen weg von der Zuständigkeitskultur hin zu einer Lösungskultur.“
Im Verlauf des Abends wird sie sich den Vorschlag eines Bürgers zu eigen machen, „Lösungskultur“ durch „Ergebniskultur“ zu ersetzen: „Das merke ich mir. Das ist besser.“
Nach einer halben Stunde hat die Dezernentin ihre Rolle als Wahlkämpferin gefunden. Sie steht auf, verlässt den Platz hinter ihrem Tisch und geht ein Stück weit in den Raum. Geht auf die Fragesteller zu. Da ist sie gut. Unverstellt. Glaubwürdig. Auf die Frage nach ihrer Biografie antwortet sie ausführlich: Ich wurde im Dezember 1956 in Bickendorf geboren und habe an der Liebfrauenschule Abitur gemacht. Nach einem Jura-Studium hat sie bei einem Krankenkassenverband und danach als Anwältin für Medizinrecht gearbeitet. Für sie völlig überraschend, wurde sie 1999 vom damals neu gewählten Gelsenkirchener Oberbürgermeister Oliver Wittke gefragt, ob sie Sozialdezernentin werden wolle: Wittke hatte im Wahlkampf versprochen, Dezernenten nach Kompetenz und nicht nach Parteibuch auszusuchen, sagt die bis heute aus Überzeugung parteilose Reker selbstbewusst.
Elf Jahre blieb sie in Gelsenkirchen. Auch unter einem sozialdemokratischen OB. Dann erreichte sie der Ruf der Grünen aus ihrer Heimatstadt, dem sie ohne Zögern folgte. Die Kölner Grünen hatten im Rat das Vorschlagsrecht für den Dezernentenposten und einen Personalberater engagiert, der Reker empfahl. Sie wurde von den Schwarzen geholt, von den Roten in Gelsenkirchen wiedergewählt und und von den Grünen nach Köln gerufen. Das nenne ich parteiübergreifend, fasst Henseler zusammen. Nach dem autobiographischen Ausflug geht es wieder um das Millionendorf am Rhein, dessen Verwaltung sich mit vielem so schwer tut. Reker will das ändern: Von Beginn eines Projektes an muss ämterübergreifend gearbeitet werden. Es darf nicht sein, dass sich ein Amt etwas überlegt, und dann fünf Ämter fragen muss, ob sie das auch so sehen.“ Dem Argument, dass es in der Verwaltung möglicherweise gewisse Vorbehalte gegen solche Veränderungen geben könnte, begegnet Reker pragmatisch mit dem Verweis auf mögliche Personal-Rochaden in den Ämterleitungen: „Vielleicht ist es für manche ja ganz schön, mal was anderes zu machen.“ Reker möchte die Stadtbezirke stärken. Die seien in Köln mit jeweils über 100.000 Bürgern fast schon eigene Großstädte. Für jeden Stadtbezirk soll ein Mitglied der Dezernentenriege zuständig sein. Damit seien Bezirksinteressen gesamtstädtisch eher im Blick.
Und weiter geht die Reise durch die Kölner Themen. In keiner deutschen Großstadt landet pro Kopf so viel Müll auf dem Bürgersteig. Wurde in einer Studie nachgewiesen, in der von einem mediterranen Müllverhalten in Köln die Rede sei. Ein Patentrezept für mehr Sauberkeit gebe es nicht. Da sei jeder gefragt. Als das Gespräch auf den städtischen Haushalt kommt, gesteht die OB-Kandidatin freimütig: Das ist meine Angstfrage. Und ihre Antwort ist keine, die die grundoptimistische kölsche Seele streichelt: Wir werden uns in Zukunft viele Dinge nicht mehr leisten können. Zum Beispiel, 860.000 Euro pro Jahr für die Reinigung der neuen Freitreppe am Rheinufer auszugeben.
Nach zwei Stunden geht ein unterhaltsamer Abend zu Ende. Keine Langeweile, das kann man wirklich nicht nach jeder Polit-Veranstaltung bilanzieren. Und die entscheidende Frage: Kann sie OB? Henriette Reker kann Verwaltung. Sie kann mit Menschen. Ja, sie kann OB.
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