Dracula mit viel Herzblut
Mittwoch, 13. Mai 2015 | Text: Jasmin Klein | Bild: Barbara Siewer
Geschätzte Lesezeit: 2 Minuten
Gegen viertel vor acht steige ich die Treppe hinab in den zum Theater umgebauten Keller. Im kleinen Vorraum hängen überall an den Wänden Fotos und Plakate von vergangenen Zeiten, Theaterstücken und lachenden Menschen. Joe Knipp, Leiter und Regisseur, begrüßt die Theatergäste mit Handschlag, es herrscht eine herzliche Atmosphäre. Hinter der kleinen Theke steht Hannelore Honnen, die nicht nur für Bühne, Kostüme und Licht, sondern auch für den Ausschank von Getränken zuständig ist.
Im Zeitalter von Netflix, Sky und facebook bewegt kaum noch jemand seinen Hintern in ein Theater. Am Donnerstag war das aber anders. Die Premiere des neuen Stücks im Theater am Sachsenring. Dramaturgin Sabine Dissel hat Bram Stokers ‚Dracula‘ von einem 400-Seiten-Briefroman zu einem 2-stündigen Stück für das Theater am Sachsenring umgeschrieben, wie sie mir vor Wochen in einem Interview erzählt hat. Da war meine Neugierde natürlich größer als meine Bequemlichkeit.
Ich betrete den kleinen Theatersaal, der mit Bistrotischen ausgestattet ist und auf eine Guckkastenbühne zuläuft. Ungefähr sechzig andere Menschen sind auch schon da, auffällig viele junge, attraktive Frauen. Sowieso befinden sich viel mehr Frauen als Männer im Publikum. Ob das am Vampirthema oder am Theaterbesuch an sich liegt? Ich setze mich in die letzte Reihe.
„Mir läuft eine Gänsehaut über den Körper.“ / Foto: Barbara Siewer
Die Bühne ist klein. Das Stück beginnt. Julian Baboi als Patient Renfield überzeugt in der ersten Szene durch eine Mischung aus Wahnsinn und Charmeoffensive bei dem Versuch, eine Fliege in eine Streichholzschachtel zu sperren. Eine Parabel? Einfallsreich wird Draculas Schloss in der nächsten Szene mit Hilfe mehrerer Holzrahmen dargestellt. Die beiden Schauspieler (Felix von Frantzius als Dracula und Signe Zurmühlen als Jonathan Harker) schaffen es, mich im ersten Akt in ein transsylvanisches Schloss zu bringen, das mir unheimlich wird, von minimalen, aber unheilschwangeren Tönen untermalt, die live mit Hilfe von Gläsern erzeugt werden.
Ein Säugling wird von Wölfen gefressen. Mir läuft eine Gänsehaut über den Körper. Als die Mutter des Kindes (Jennifer Tilesi Silke) es sucht, schreit diese so verzweifelt, dass meine Augen feucht werden. Doch auch sie wird von Wölfen zerfleischt. Ihre markerschütternden Schreie laufen mir noch minutenlang hinterher. Dabei gibt es weder Blut noch sonstige Splatter-Elemente. Die Atmosphäre wird alleine durch das Wolfsgeheul von dreien der vier Schauspieler hergestellt.
Aber im nächsten Akt sind wir schon in England; ein junger Mann (Nervenarzt Dr. Seward, auch gespielt von Felix von Frantzius) umgarnt eine junge Frau (Lucy, gespielt von Signe Zurmühlen) und spielt ihr etwas auf dem Klavier vor. Nun ist es gar nicht mehr gruselig, sondern sympathisch, witzig und charmant.
Ich werde nicht jede Szene hier beschreiben, nur so viel: ich bin bass erstaunt, wie gut die vier Schauspieler, die beiden jungen Frauen und beiden jungen Männer, spielen. Wie echt, unprätenziös und wahrhaftig sie ihre verschiedenen Rollen ausfüllen. Mit großer Spielfreude tragen sie das Stück und machen es kurzweilig und lebendig. Und das Stück ist nicht nur gruselig und unheimlich. Es steckt voller großartiger Ideen, wie man mit kleinem Budget großes Theater inszenieren kann, und wie man den 400-Seiten-Roman so auf zwei Stunden eindampft, dass die Essenz des Werks konzentriert übrig bleibt. Es hat Charme und Witz, ohne kalauerartig nach Pointen zu suchen.
Ich habe nur ein einziges Mal auf die Uhr geguckt, und das war, als das Stück zu Ende ging (22:30 Uhr). Und ein zweites Mal, als der Applaus endete. Es gab vier Minuten Applaus! Klatschen Sie mal vier Minuten lang freiwillig, dann wissen Sie, wie gut das Stück war. Und gehen Sie rein! Netflix läuft nicht weg. Das Theaterstück wird vorerst bis zum 20. Juni aufgeführt.
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