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Kultur

Die Antworten der Zukunft liegen in der Vergangenheit

Freitag, 11. September 2015 | Text: Antje Kosubek | Bild: Tamara Soliz

Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten

An einem sonnigen Vormittag treffe ich den Südstädter und Schriftsteller Peter Henning im „Geschnitten Brot“ auf einen Cappuccino. Nach der Veröffentlichung seines jüngsten Romans „Die Chronik des verpassten Glücks“ im Juli, arbeitet er bereits an einem neuen Buch. Seine müden Augen versteckt er hinter einer Sonnenbrille. Verständlich, denn – wie er später beiläufig erwähnt – hatte er bis morgens um halb 4 Uhr noch daran geschrieben.
Die „Chronik des verpassten Glücks“ erzählt von Richard Warlo, der durch Zufall auf Fotos seines Ziehvaters Pawel Kròl in einer SS-Uniform stößt. Er macht sich auf die Spurensuche und reist nach Polen, zur früheren Familie von Pawel, die dort noch lebt. Seit 1943 warten auch sie auf Antworten: warum der Vater sie damals – von einem Tag auf den anderen – verließ, um in Richtung Deutschland zu ziehen. Angekommen in der polnischen Heimat des Ziehvaters findet Richard Warlo nicht die Antworten, die er vielleicht sucht. Doch welche Antworten hatte er erwartet? Nach der Auflösung sucht der Leser bis zum Schluss und am Ende weiß er viel mehr als die Figuren. Ein Roman über das Suchen und Finden – auch nach der eigenen Vergangenheit und der Frage, ob man wirklich allen Dingen auf den Grund gehen muss? Der Kölner Stadtanzeiger lobte das Buch kürzlich in den höchsten Tönen und schrieb: “Dieser Erinnerungsroman ist ein Glücksfall für die deutsche Literatur“.
 
Meine Südstadt: Die Hauptfigur Richard Warlo wuchs, wie Du, bei der  Großmutter und ihrem Freund auf. Wie viel autobiographisches steckt im Roman?
Peter Henning: „Jedes meiner Bücher hat etwas Autobiographisches. Ich schreibe sozusagen an den Rückseiten meines Lebens entlang. Beleuchte Gefühlslagen, die sich bei mir in vielen Jahren angesammelt haben. Ich suche immer wieder nach einem literarischen Ausdruck, spiele Möglichkeiten durch im Nachdenken über Familie. Wie bin ich, wenn ich keinen Vater habe? Wie, wenn ich den falschen habe? Die Vaterfigur bildet die zentrale Leerstelle in meinem neuen Buch, in nahezu all meinen bisherigen Büchern!“
 
Marcin Król, der Sohn von Pawel, schreibt Briefe an sich selbst. Immer im Namen seines – vor langer Zeit verschwundenen – Vaters und freut sich dann darüber. Das sind die wenigen glücklichen Momente von Marcin im Buch. Du sagst selbst, es gibt eigene biographische Aspekte. Hilft das Schreiben auch, um wunde Punkte in der Familienchronik aufzulösen?
Peter Henning: „Familie ist ein großes Thema. Ich habe Familie sowohl als Segen als auch als Fluch erlebt. Ich bin die ersten sechs Jahre im Kinderheim groß geworden und anschließend in das hinein gekommen, was Jonathan Franzen in seinem Buch „Die Korrekturen“ als dysfunktionale Familie beschreibt. Ein Steinbruch, aus dem ich unablässig schöpfe. Und dann kommt es zu Geschichten wie der meines polnischen Ziehvaters, der mich mit sechs Jahren aus dem Kinderheim holte. Er brach in Apotheken ein, um sich Morphium gegen seine Schmerzen zu besorgen – und ich stand als Achtjähriger Schmiere mit einer Trillerpfeife. Andererseits sind wir durch ganz Europa getourt und haben Schmetterlinge gefangen. Ich war dabei, wie er Waffen schmuggelte. Er war ein besonderer Frauentyp– melancholisch und interessant. Die Touren durch Europa, bei denen wir Schmetterlinge beobachtet und gefangen hatten, zählen zu den schönsten Momenten meines Lebens. Aber ich hatte auch oft Angst auf etwas stoßen zu können, was meinen Blick auf ihn grundsätzlich revidieren könnte. Diesen Gedanken spiele ich in meinem aktuellen Roman durch, ausgelöst durch die Frage: können wir die Menschen, die wir lieben, kennen?“
 
Ist Dein eigener Ziehvater noch stark in Deinem jetzigen Leben verwurzelt? Er starb 1980, da warst Du gerade 20 Jahre alt.
Peter Henning: „Ja, er war wohl die prägendste Figur meines Lebens – und spukt seither durch all meine Bücher. Aber kenne ich ihn deswegen? Schon in meinem Erstlingswerk „Tod eines Eisvogels“ tritt er als Protagonist auf. In „Die Ängstlichen“, einer Familienchronik von 2009, erneut. Ich werde wohl nicht mehr über ihn schreiben, was aber nicht heißt, dass ich fertig bin mit ihm.“
 
Die „Chronik des verpassten Glücks“ – gibt es das überhaupt?
Peter Henning: „Es gibt einen schönen Schlusssatz vom Philosophen Ernst Bloch, der eine große Enzyklopädie der Träume geschrieben hat, „Das Prinzip Hoffnung“. Diese schliesst mit dem Satz: ‘Hat der Mensch sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.’ Das gefällt mir. Dieses Nachdenken über den Begriff „Heimat“, die man irgendwann verliert, wenn man nicht aufpasst. Man kann einer Heimat nachtrauern. Das macht Marcin, der sich fragt, wie es gewesen wäre, wenn er einen Vater gehabt hätte. Er trauert dem nicht gelebten, dem verpassten Leben nach. Ich hatte auch verpasste Momente in meinem Leben, hätte vielleicht Biologie studiert und wäre Schmetterlingsforscher geworden.“

Was ist es denn statt dem Biologiestudium geworden?
Peter Henning: „Ganz zu Anfang wäre ich gerne Entomologe geworden, doch dann hat mich die Literatur gerettet. Ich hatte in jungen Jahren angefangen als Journalist zu arbeiten und sehr schnell gute Aufträge. Doch insgeheim wollte ich wohl schon immer Schriftsteller werden. Mein erstes Buch, das waren knapp 140 Seiten, hatte ich an fünf Verlage geschickt und innerhalb von 10 Tagen fünf Zusagen. Plötzlich war ich Schriftsteller. Und alles wurde anders, komplizierter.“
 
Macht es nicht manchmal auch Sinn die Vergangenheit ruhen zu lassen? Dinge auf sich beruhen lassen und nicht jeden „biographischen Stein“ umzudrehen? Die Hauptfigur Richard Warlo hat beispielsweise den Tod seiner Freundin nicht verwunden und ruft in regelmäßigen Abständen den Anrufbeantworter an, um ihre Stimme zu hören. Wie viel Vergangenheit tut gut?
Peter Henning: „Meine literarischen Ausflüge finden in der Regel in die Vergangenheit statt. Derzeit schreibe ich an einem neuen Buch, das den Arbeitstitel trägt „Was wir nicht sehen“. Darin taucht plötzlich jenes 16jähriges Mädchen im Roman auf, das mich im Kinderheim gerettet hatte, weil sie mir ihre Zuneigung schenkte. Dieses Mädchen spukt durch das Buch. Es erzählt die Geschichte eines Schriftstellers, der nach Biarritz fährt, um dort sein Buch zu Ende zu schreiben – und dann in eine mysteriöse Sache gerät, die ihn auf dramatische Weise dazu zwingt, seine gemachten Wahrnehmungen zu überprüfen. Denn für ihn liegen die Antworten, was seine weitere Zukunft betrifft, ebenso wie für mich in der Vergangenheit.“

 

Dein letzter veröffentlichter Roman widmete sich einem ganz anderem Thema:
Am frühen Morgen im August 1988 überfallen zwei schwer bewaffnete Männer eine Deutsche Bank Filiale in Gladbeck und flüchten verfolgt von Polizei und einem Tross von Reportern nach Bremen. An Bord waren auch zwei Geiseln. Das Bild von der Kölner Fußgängerzone, der Schildergasse, wie aus dem Auto heraus ein Interview gegeben wird, während auf der Rückbank der Geisel Silke Bischoff die Pistole an den Hals gelegt wurde, hat sich in vielen Köpfen eingebrannt. Wie kam es zum Roman „Ein deutscher Sommer“, der das Geiseldrama von Gladbeck im Sommer 1988 als Roman erzählt?

Peter Henning: „Das Thema hatte mich über 20 Jahre nicht los gelassen, seitdem ich es als junger Mann im Fernsehen sah. Ich war Student und dachte, wenn ich jemals ein Schriftsteller werde, will ich darüber etwas schreiben. Durch einen Zufall lernte ich Jahre später den damals leitenden Beamten des Dortmunder Spezialeinsatzkommandos (SEK), Rainer Kesting kennen. Er ist mittlerweile tot. Ich begann zu recherchieren und hatte durch ihn einen besonderen Zugang zum Thema und erhielt viele interessante Innenansichten. Ich habe mich intensiv, nämlich über vier Jahre mit diesem Thema beschäftigt. Es gibt auch noch andere Fälle, über die ich gern schreiben würde – es aber nie tun werde. Beispielsweise die Geschichte von Wolfgang Grams und seinen Tod am Bahnhof in Bad Kleinen. Oder die Herrhausen-Ermordung!
Thematisch ragt der Roman „Ein deutscher Sommer“ aus meinen Gesamtwerk aus, denn alle anderen Bücher kreisen um Fragen der Familie.“

Die Hauptfigur Richard Warlo lebt selbst in Südstadt, in der Nähe des Römerparks. Was bedeutet Dir die Südstadt?
Peter Henning: „Ich wohne nun schon seit knapp drei Jahren hier, und kannte die Südstadt vorher nicht. Ich hatte zuvor im belgischen Viertel und dann in Weiden gewohnt. Eher zufällig bin ich dann in der Südstadt gelandet und schnell mit Freuden heimisch geworden. Ebenso wie meine beiden Windhunde, die den Friedens- und Römerpark genauso mögen wie ich.“
 
Wie schreibt der Schriftsteller Peter Henning? Von der Hand weg? Oder gibt es da auch Blockaden?
Peter Henning: „Mit den letzten vier Büchern war ich beim Aufbau Verlag. Mit meinem Buch über das Geiseldrama in Gladbeck von 1988 landete ich auf der Spiegel Beststellerliste und bekam von Randomhouse daraufhin ein Angebot, dem ich nicht widerstehen konnte. Die “Chronik des verpassten Glücks“ entstand dann in 11 Monaten. Für mein Buch „Die Ängstlichen“ brauchte ich, nur zum Vergleich,  sieben Jahre.“
 
Wie sieht der Alltag eines Schriftstellers aus?
Peter Henning: „Ich schreibe jeden Tag. Gehe mit den Hunden, erschnüffele mir die Tage. Und mache im Übrigen genau das, was andere auch tun: koche, kaufe ein, treffe meine Kinder. Das alles macht den Alltag eines inzwischen 56-Jährigen aus, dessen Spanne nach Vorne täglich ein bisschen kleiner wird. Der Rest gehört der Lektüre. Ein Tag ohne Lektüre ist ein verlorener Tag.“

Und was liest der Schriftsteller Peter Henning privat?
Peter Henning: „Im Moment lese ich einen Findling, Carlo Cassolas kleinen Roman „Erinnerung an ein Mädchen“, der 1970 bei Benziger erschienen ist. Eine wunderbare Liebesgeschichte eines jungen Mannes, der die Liebe entdeckt. Cassola ist lange verweht, zu Unrecht! Er war ein Meister. Darüberhinaus erwarte ich ungeduldig Nachschub, denn ich habe weitere Bücher von Cassola antiquarisch bestellt.“
 

Vielen Dank für das Gespräch.
 

Die Buchpremiere „Chronik des verpassten Glücks“ findet am Dienstag
15. September 2015 in der Buchhandlung am Chlodwigplatz statt. Die Lesung ist bereits komplett ausgebucht.

Der Roman ist im Luchterhand Verlag erschienen, hat 448 Seiten und kostet 19,99 Euro.

Text: Antje Kosubek

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