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Bildung & Erziehung Gesellschaft Kultur

Die Entmündigung der Schulen

Donnerstag, 28. Januar 2016 | Text: Jörg-Christian Schillmöller | Bild: Jörg-Christian Schillmöller

Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten

Josef Schnippenkötter hatte Fantasie. Und Biss. Er war Mathelehrer am Apostelgymnasium, als die Nazis die Macht übernahmen. Aber er passte sich nicht an. Im Gegenteil. Er hatte immer neue Ideen, um den obligatorischen Hitlergruß am Anfang und Ende der Stunde zu umgehen. Er erfand eigene „Varianten“: Eine bestand darin, die Hand einfach mitsamt Füller zu heben, um gleich darauf die Einträge ins Klassenbuch vorzunehmen. Oder er sagte den Schülern: „Das machen wir das nächste Mal.“ Josef Schnippenkötter überstand den Krieg und half danach, in Deutschland ein Schulwesen aufzubauen, das den Namen wieder verdiente.

Es ist 18 Uhr, und die Antoniterkirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Gedenkstunde gibt es jetzt seit 1997. Roman Herzog hatte ein Jahr vorher den 27. Januar vorgeschlagen – jenen Tag, an dem Auschwitz befreit wurde. „Damals gab es in Köln drei Veranstaltungen“, erzählt mir Malle Bensch-Humbach, die bis heute die Gedenkstunde mitorganisiert. Die beiden anderen Veranstalter waren ein Bündnis gegen Rechts und die Synagogengemeinde. Ein Jahr später taten sich alle zusammen, und so gibt es die gemeinsame Gedenkstunde in der Antoniterkirche nun seit 1998, unterstützt von einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis.

Jedes Jahr denken sich die Organisatoren ein neues Thema aus – und recherchieren. Juden in Köln, Schwule in Köln: Alle Opfergruppen sollen zum Zuge kommen. „Schule im Nationalsozialismus“ heißt das Motto 2016, und die Recherche ist beeindruckend. Vorne auf den Stufen zum Altarraum stehen Renate Fuhrmann, Josef Tratnik, Maria Ammann und Marc Bartelt: Sie sprechen die Ergebnisse der Nachforschungen als Collage. Zitate, Erinnerungen, Auszüge aus Büchern, Augenzeugenberichte. Dazu laufen auf der Leinwand links die historischen Zitate und Namen. Vor allem aber: historische Fotos in Schwarz-Weiß. Beispiel: Der Flaggenappell in der Schule am Severinswall, mit dutzenden emporgereckten Armen.

In der Gedenkstunde lerne ich, wie die Freien Schulen von den Nazis drangsaliert wurden. Freie Schule hieß damals weltliche Schule, also ohne religiöse Ausrichtung. Es gab demnach auch keinen Religionsunterricht im klassischen Sinne. 144 Volksschulen gab es Anfang 1933 in Köln, davon 13 freie. Schon Ende September waren die 13 allesamt aufgelöst, und die Schüler gingen auf konfessionsgebundene Schulen. So wechselten sie zum Beispiel von der Freien Schule Gereonswall zur Pfarrschule Klingelpütz. Mit dem Ergebnis, dass sie dort verprügelt und drangsaliert wurden.

Eine andere Geschichte. Am Apostelgymnasium wurde in der Nazi-Zeit Dr. Heinrich Deckelmann neuer Direktor. Er war den Nazis „positiv aufgefallen“. Einer der Schüler am „APG“ war Herbert Baum Schüler, Sohn eines jüdischen Religionslehrers. Es fährt einem kalt den Rücken hinunter, wenn man seine Schilderungen hört: die Angriffe, die Entwürdigungen, der Antisemitismus. Herbert fühlt sich nach eigenen Worten irgendwann „völlig isoliert“, ihm vergeht die Lust am Lernen. Seine Eltern wenden sich an Direktor Deckelmann und bitten ihn, einzuschreiten. Doch er verweigert ihnen seine Unterstützung. Sie nehmen ihren Sohn von der Schule.

Beispiele wie diese höre ich viele in der Antoniterkirche. Es ist eine bewegende Gedenkstunde. Sie gibt sich nicht mit dem Innehalten zufrieden. Sie ist ein aktiver Beitrag zur Aufarbeitung unserer Stadtgeschichte. Das ist der eine von zwei Gründen, warum diese Gedenkstunde mir in Erinnerung bleiben wird. Der andere Grund ist Esther Bejarano.

 

Die zierliche Frau mit den grauen Haaren ist längst bundesweit bekannt: Sie ist eine Überlebende des Mädchenorchesters Auschwitz – und sie tritt zum ersten Mal in der Kölner Gedenkstunde auf, begleitet von der „Microphone Mafia“ (beide geben im Anschluss in der Kirche noch ein eigenes Konzert, auch das ein Novum). Ganz bescheiden, aber auch ganz kraftvoll steht Esther Bejarano vor der gefüllten Kirche und singt, begleitet vom Hiphop der „Microphone Mafia“. Vor einem Jahr sagte sie am 27. Januar zu tagesschau.de:

„Bei der Microphone Mafia stehen drei Generationen und drei Religionen gemeinsam auf der Bühne. Die Band besteht unter anderem aus einem Muslim, einem Katholiken – und ich sowie mein Sohn sind Juden. Wir wollen Vorbild sein für alle Menschen, die denken, man könne mit Menschen, die anders sind, nicht harmonieren. Wir harmonieren nämlich ganz wunderbar.“

Den einzigen Patzer des Gedenkens in der Antoniterkirche erlaubt sich Bürgermeister Hans-Werner Bartsch, CDU. Mehrfach spricht er in seinem Grußwort den Namen Esther Bejarano falsch aus – sogar dann noch, als ihm der Name richtig aus dem Kirchenraum zugerufen wird. Der Intensität und der Nachwirkung der Gedenkstunde tut das keinen Abbruch. Großes Kompliment an alle – insbesondere an das Team der Kirche, an die Projektgruppe Gedenktag und an Pfarrer Mathias Bonhoeffer.

 

 

Mehr im Netz
www.microphone-mafia.com
www.antonitercitykirche.de
 

Text: Jörg-Christian Schillmöller

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