Rock’n Roll ist ein Dorf
Montag, 4. April 2016 | Text: Jörg-Christian Schillmöller | Bild: Jule D. Körber
Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten
Es gibt einen Moment an diesem Abend, der wiederkehrt. Vorne rechts spielt die Band Wolke: Zwei Männer, Klavier und Gesang, ziemlich gut. Dahinter der rote Lichtkegel des Scheinwerfers auf einem Vorhang. Vorne links noch zwei Männer, beide auf Hockern – die Autoren Philipp Krohn und Ole Löding. Hinter ihnen ein blauer Lichtkegel. Während Wolke singt, blättert Philipp kurz in dem Buch, um das es heute geht. Ole schaut in seine ausgedruckten Seiten und greift nach einer Bierflasche.
Immer wieder gehen die Blicke der beiden raus ins Publikum, zu den 80, 90 Menschen vor ihnen. Es sind nicht nur Freunde, Partner, Kollegen und Verwandte. Es sind auch viele, die einfach nur Musik mögen. Ole und Philipp sehen glücklich aus auf ihren Hockern, ein bisschen ungläubig, ein bisschen stolz. Ihre Gesichter nicken im Takt, wenn Wolke singt. Nach den Songs eine kurze Stille, ein Fotoapparat blitzt, dann Applaus. So ist der Abend.
Haben ein wunderbares Buch geschrieben: Philipp Krohn und Ole Löding lesen in der Lichtung.
Das Abtippen war das Schlimmste
Es ist frühlingswarm in Köln, zumindest drinnen. Draußen fällt der letzte Winterregen bei sieben Grad plus. Sound of the Cities heißt das Buch, das Philipp und Ole geschrieben haben, Untertitel: Eine popmusikalische Entdeckungsreise. Zwei Jahre hat die Reise gedauert, und das Schlimmste war, die vielen Interviews abzutippen. Erzählt mir Philipp. Trotzdem war es gut, das zu tun. Es war sogar ziemlich wichtig. Denn sie wussten jetzt immer sofort, wo sie schneiden würden, wo der beste O-Ton zu finden war. Nicht nur für das Buch und die Radiosendungen. Auch für heute Abend gibt es O-Töne, Zitate, Einblicke in Sprache und Leben von Musikmachern. Big names, small names, einer nach dem anderen.
Es ist kurz vor acht, gleich geht die Lesung los. Die Stühle in der Lichtung am Ubierring sind wie die Musik, die wir hören werden. Da stehen Wartezimmer-Stühle, Rittersaal-Stühle, Konferenzraum-Stühle, Barsessel und jene robusten Holzstühle, die es nur auf Probebühnen gibt, weil man mit ihnen werfen kann. Es sind insgesamt knapp 30 Stühle. In wenigen Minuten ist es voll, sehr voll. Die Menschen setzen sich, stellen sich rundherum, verharren an der Bar hinter mir, lehnen sich an den Pfeiler links von mir. Ein paar filmen mit, auf Stativen, irgendjemand organisiert ein Verlängerungskabel, sonst wäre die Kamera nach einer Stunde am Ende.
Eine Prise Cannabis
Philipp Krohn und Ole Löding sind keine Chronisten, keine Biographen. Sie sind zum Glück vor allem Reporter. Denn was ihre Lesung ausmacht, sind die Stimmungen, die sie in 24 Städten erlebt und aufgenommen haben. Eine Prise Cannabis in London, dazu windschiefe Häuser und Zitate wie Rockn Roll ist ein Dorf.
Oder Fahrten in kleinen und großen Bussen. Die Linie M41 nach Berlin-Kreuzberg. Popgeschichten am Landwehrkanal, die Gedenktafel für Ton, Steine, Scherben aus Porzellan (!), ein Donnerstagabend in Greenwich Village und zehn Meter Vinyl im House of Oldies. Es sind sinnliche Spaziergänge durch urbane Räume – und ihr Buch ist darüber hinaus auch noch Enzyklopädie und Atlas. Ein akustisches Lexikon.
„Wir sind hingefahren“
Was macht den Sound einer Stadt besonders? Bei Philipp waren es New Orleans und Chicago. Immer wieder war er dort, nur warum? Bei Ole waren es Stockholm und Hamburg. Haben die was Spezifisches? Wir sind hingefahren, sagt Ole. Wir haben die Musiker gefragt, die dort Pionierarbeit geleistet haben. Am Ende werden es 160 Künstler, Bands und Experten. Das reicht für ein Buch. Und wir reden von 400 Seiten, gefüllt mit Geschichten, mit Wissen – und vielen Momenten, Details. Und diesen Stimmungen. Die 23 Euro sind gut angelegt.
Und dazu singt heute Abend Wolke, das Kölner Duo, das viele als Popdolmetscher von 1Live kennen. Heute Abend singen sie deutsche Versionen von Liedern aus den Städten, die Philipp und Ole bereist haben. London: Aus I want to break free von Queen wird Ich will mich befrein. Wenn man das liest, sieht es doof aus. Aber auf der Bühne funktioniert es.
Vier Männer, eine Bühne: die Autoren Philipp Krohn und Ole Löding, und die Band Wolke mit Oliver Minck (Gesang) und Benedikt Filleböck (Klavier).
„Köln ist nicht cool“
Denn Oliver Minck singt mit Anführungszeichen, das Zitat ist ironisch – und alle haben einen Heidenspaß damit. Nein, ich kannte nicht jedes Lied, das Wolke gesungen hat. Weder aus London, noch aus Stockholm. Aber Cindy Lauper habe ich wiedererkannt. New York, Mädchen wollen nur Spaß, das Publikum lacht zurecht. Olivers Stimme klingt etwas rostig und knarzt, aber das passt gut. Und Benedikt Filleböck spielt wunderbar sicher auf einem Klavier, das nur ein bisschen verstimmt ist.
London, Berlin, New York, Stockholm, Manchester, Köln. Wir reisen viel an diesem Abend. Wir hören viel Musik, eigentlich müsste ich schreiben: Wir entdecken Musik. Denn wer kennt schon die Band „Can“, die Anfang der Siebziger Jahre 10.000 Leute in die Kölner Sporthalle zog? Ich nicht. Aber ein Freund links neben mir in der Lichtung hört nach diesem Abend zuhause erstmal: Can. Ganz angenehm, sagt er später. Okay, der erste Satz in dem Kapitel über Köln tut weh, denn er lautet: Köln ist nicht cool. Aber danach folgt ein ganzes Kapitel darüber, wie cool Köln ist. Kann man stehenlassen.
„…und dann kommt Afrika.“
Auch Niedecken haben sie getroffen, und da muss ich passen, Zitat: Wir treffen den BAP-Chef im Hauptquartier der Band, das versteckt in einem Hinterhof in der Kölner Innenstadt liegt. Ihr wisst es vielleicht. Ich aber habe keine Ahnung, wo dieser Hinterhof ist. Aber dafür weiß ich, wo der Chlodwigplatz ist – laut Google Maps genau 130 Meter von der Lichtung entfernt. Für Niedecken hat dort alles angefangen, mitten auf dem Chlodwigplatz. Und davon hat er Philipp und Ole erzählt. Es ist eines der Zitate, von denen es so viele in diesem Buch gibt. Zurück auf Start: Roter Lichtkegel rechts, blauer Lichtkegel links. Wolke singt, Philipp und Ole schauen in die Menge. Sie lächeln. Und ich denke an Niedeckens Chlodwigplatz.
Ich weiß genau, in welcher Himmelsrichtung was ist, und hab mich von Kind an daran orientiert. Ich wusste: Die Bonner Straße runter, irgendwann fangen die Berge an, und jenseits von den Bergen kommt ein Meer und dann kommt Afrika. Und ich wusste, auf der Südbrücke fahren die Züge nach Osten, und wenn die ganz weit fahren, dann fahren sie bis nach Russland. Ich bin da aufgewachsen. Ich hab mich von da aus orientiert. Das ist mein Nabel der Welt.
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www.facebook.com/soundofcities/
Philipp Krohn & Ole Löding: Sound of the Cities. Eine popmusikalische Entdeckungsreise.
Gebunden mit Schutzumschlag. Rogner & Bernhard Verlag. 398 Seiten. 22,95 Euro.
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