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Bildung & Erziehung Gesellschaft Kultur Südkids

Arme Kinder!

Freitag, 30. September 2016 | Text: Alida Pisu | Bild: © Christoph Wolff

Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten

Fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland sind von Armut betroffen. Diese erschreckend hohe Zahl nennt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die gerade erst erschienen ist. Brandaktuell also ist das Stück mit dem Titel „All about Nothing“, das am heutigen Freitag im „Freies Werkstatt Theater“ seine Premiere feiert. Entwickelt und in Szene gesetzt von der Performancegruppe „pulk fiktion“, die „Theater für alle“ macht, so Regisseurin Hannah Biedermann. Auch wenn die Produktionen im Kinder- und Jugendtheater-Bereich angesiedelt sind. Aber: „Jede und jeder ist willkommen, um über Gesellschaft mit nachzudenken.“
Nachgedacht und gesprochen hat „Meine Südstadt“ mit den beiden Regisseurinnen Hannah Biedermann und Eva von Schweinitz.

Meine Südstadt: Wie kamen Sie auf die Idee, ein Stück über Kinderarmut zu machen?
Hannah Biedermann: Wir als freie Gruppe haben uns dem Kinder- und Jugendtheater verschrieben. Deshalb auch Kinderarmut und nicht Armut im Allgemeinen. Das Thema ist mir schon im Studium über den Weg gelaufen. Dafür, dass es eine große Relevanz hat und vor allem Viele betrifft, ist es nach meinem Gefühl aber so, dass es in den Medien sehr wenig vorkommt. Unser Anliegen ist, Themen in der Öffentlichkeit einen Platz zu geben, die sonst wenig Aufmerksamkeit erhalten. Und dann noch mal unter der Perspektive derer, die eben häufig nicht Teil eines Diskurses sind, z.B. die Kinder. Wenn über ein Thema gesprochen wird, ist das ja oft auf der Erwachsenen-Ebene oder ein analytisches „Über Andere sprechen“. Aber aus der Betroffenen-Ebene heraus ein Stück zu machen, war der erste Gedanke, weil wir das wichtig finden.

Gerade eben ist das Thema ja in den Schlagzeilen.
Hannah Biedermann: Es ist erstaunlich, wie oft das so ist, das man ein Thema entdeckt und schwupps, plötzlich ist es total aktuell. Wir fanden es wichtig und erst im Nachhinein wurde es zu einem breiteren Thema.

Eva von Schweinitz: Manchmal arbeitet man an etwas und dann fängt es an, einem immer mehr zu begegnen, man sieht es überall. In unserer Recherche-Phase haben wir viele Artikel gelesen. Wir haben aber auch Jugendzentren aufgesucht und andere Orte, wo zwar alle Kinder und Jugendlichen hinkommen können, wo man aber wahrscheinlich vorrangig Kinder aus sozial schwachen Familien antreffen kann. Es war uns total wichtig, mit den Menschen selber zu sprechen. Man kann aber nicht sagen: „Ach, du bist ja arm, wie geht es dir damit?“ Wir haben eher so aus der Haltung geguckt: „Was ist eure Lebensrealität? Inwiefern ist Geld wichtig? Was würdet ihr machen, wenn ihr hunderttausend Euro hättet oder im Lotto gewinnen würdet? Wie viele Geschwister hast du? Wie sieht’s bei dir zu Hause aus?“ Um ihre Lebenswelt kennenzulernen. Sonst ist es ja auch ein bisschen beleidigend. Viele, die arm sind, sehen sich auch nicht als arm.

Oder schämen sich.
Eva von Schweinitz: Auch das.

 

Regisseurinnen Hannah Biedermann und Eva von Schweinitz. (Foto: Michaela von Schweinitz)

Die Uraufführung des Stückes war bereits in Düsseldorf. Waren auch Kinder unter den Zuschauer/innen, die sie interviewt hatten und wie haben die reagiert?
Hannah Biedermann: Ja, die haben positiv reagiert. Da ist man auch erleichtert, weil man ja ein Vertrauensverhältnis eingeht. Man sagt: „Wir sprechen jetzt, wir nehmen das auf, ihr oder eure Eltern unterschreibt, dass wir das benutzen dürfen, aber ihr vertraut uns, dass wir euch nicht bloßstellen oder es so zusammen schneiden, dass ihr anders rüberkommt, als ihr hier wart.“ Letztlich ist es ja anonym, weil kein Name auftaucht und die Stimme nicht zuzuordnen ist. Aber wenn man nur einen Satz nimmt, verkürzt man einen Menschen auf etwas, auch ohne böse Absicht. Davor hatten wir Respekt und dachten: „Hoffentlich passiert das eben nicht, dass Jugendliche sich nicht gut fühlen, wenn sie ihre Stimme hören“, aber das war nicht der Fall. Die waren alle sehr gerührt und auch begeistert und haben sich eher wertgeschätzt gefühlt. Im Sinne von: „Ich habe einen Teil zu diesem Theaterstück beigetragen und das macht mich stolz.“ Und andere Jugendliche haben über das Thema andocken können. Etwa so, dass es sie noch anders berührt, als über das reine Wissen aus der Schule. Oder Kinder, die gesagt haben, sie erkennen ihre eigene Realität wieder und fühlen sich dadurch auch gesehen.

Diese eigene Realität ist ja oftmals bedrückend. Wie wird sie im Stück dargestellt? Auch vielleicht mit einer Vision, was mit den hunderttausend Euro möglich wäre?
Eva von Schweinitz: Zum einen ist uns wichtig, das Thema nicht zu romantisieren oder zu beschönigen. Gleichzeitig wollten wir es aber auch nicht zu einem Betroffenheitsstück machen, sondern mit Humor und Leichtigkeit daran gehen. Grundsätzlich arbeiten wir mit einer nüchternen, klaren Performerhaltung und setzen weniger auf Emotionen und klassische Identifikation. Trotzdem  haben wir eine Biographie entwickelt, die rückwärts erzählt wird. Vom 21. Lebensjahr bis zum Tag der Geburt.

Hannah Biedermann: Diese „Stellvertreter“-Biographie besteht aus den ganz vielen verschiedenen O-Tönen. Sie wird von einer Schauspielerin verkörpert, die diese Stimmen in sich vereint, wodurch sich so etwas wie ein Gesamtbild ergibt. Jedes Lebensjahr zeigen wir unterschiedliche Aspekte von Armut, die im jeweiligen Alter relevant für einen Menschen sind.

Warum rückwärts erzählt?
Hannah Biedermann: Es gibt zwar diese eine Figur, aber keine klassische Narration (Erzählung, d. Redaktion), Es geht nicht um die individuelle Lebensgeschichte, sondern erst mal nur um verschiedene Aspekte, die in verschiedenen Lebensaltern relevant sind. Im Kinderalter ist es vielleicht eher so: wer kocht mir das Essen? Da ist man noch abhängiger von seinen Eltern. Später ist es vielleicht das Shirt, das man gerne hätte und das die anderen auch haben. Und dann ist es der Führerschein. Es ist ja nur eine behauptete Biographie, die nur dazu dient zu sagen: das eine führt auch mal zum anderen. Wenn du das nicht hast, dann hast du in Zukunft auch das nicht. Was wir uns vom rückwärts Erzählen erhoffen: also, wenn man das Ganze vorwärts erzählt, hört es einfach mit 21 Jahren auf. Und es könnte die Hoffnung bleiben, dass mit 22 Jahren alles gut wird. Und man bleibt  mit seinen Gedanken bei der Person. Für mich ist der Effekt, wenn man am Ende des Stückes bei Null, bei der Geburt ankommt, ein anderer. Die Zuschauer/innen sehen den scheinbaren Anfang, wo noch alles möglich ist und haben aber ja vorher eine Stunde gesehen, dass nichts möglich wird.  Man denkt also weniger  über die Figur nach, die anscheinend unfähig ist, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen, sondern, wie ich mir erhoffe, über das System. Warum hat dieser Mensch absolut keine Chance? Für uns ist wichtig, dass wir die Gesellschaft befragen, mit ihren Mechanismen. In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Und nicht bei einem Menschen rauskommen, der es vielleicht nicht geschafft hat.

Eva von Schweinitz: Das Thema ist schon bedrückend und das Schlimme ist: wenn man arm geboren wird, ist man schon so benachteiligt, dass es zwar möglich ist, sich daraus zu befreien, aber es ist sehr, sehr schwer. Was wir hinterfragen wollen, ist die Haltung, die in der Gesellschaft sehr präsent ist: man kann es schaffen, man muss halt nur hart arbeiten. Es ist nur das eigene Wollen. Wenn man sich diszipliniert, dann kann man alles erreichen. Da sind wir uns aber nicht so sicher, dass das so stimmt.

Was möchten Sie mit dem Stück erreichen?
Hannah Biedermann: Man hofft als Theatermacherin, ein bisschen die Welt zu verändern. Ich mache auch außerhalb der Gruppe noch vornehmlich Kinder- und Jugendtheater, weil man da ein Publikum hat, was noch nicht so festgefahren ist in den Meinungen. Oder wo sich auch eine Persönlichkeit erst bildet. Und vielleicht kann man da einen kleinen Anstoß geben, der weiterreicht. Mehr als nur: „Das habe ich jetzt gesehen und abgehakt.“ Theater entfaltet ja häufig seine Wirkung erst Wochen und Monate später und vielleicht denkt ein junger Mensch in irgendeinem Moment plötzlich an das, was er bei uns erlebt hat. Grundsätzlich liegt für mich die politische Kraft des Theaters ja darin, das man gemeinsam da sitzt und sich nicht in seinem Kämmerchen alleine fühlt. Dass Betroffene und Nichtbetroffene das Thema teilen und sich beim gemeinsamen Erleben erleben, das allein ist schon heilsam. Daran glaube ich. ?
Und an Unterhaltung, sonst kann man ja auch einen Zeitungsartikel lesen oder in die Schule gehen. Aber Theater ist ja etwas anderes. Eine Erfahrung machen. Und bei uns sollen sie erfahren, dass man die Welt nicht so hinnehmen muss, wie sie ist. Sie ist ein Konstrukt, das die Menschen gemacht haben. Und ich kann rausgehen und sagen: „Ich kann sie anders machen.“ Mit der Lust am Andersmachen rauszugehen, das wäre das Schönste.

Eva von Schweinitz: Genau. Das kann ich unterschreiben. Vielleicht kann man noch hinzufügen: was wir nicht wollen, ist didaktisch zu sein. Oder zu sagen: „Hier sind die Lösungen. Oder: das sollt ihr denken. Das ist die Aussage.“

Theater also nicht als moralische Anstalt?
Eva von Schweinitz: Wir sind gerne sehr unmoralisch. Es gibt auch eine Szene mit einem Klau-Tutorial, die manche Leute schwierig finden. Aber uns geht es nicht darum, irgendwelche Vorgaben zu machen. Sondern, wie Hannah sagte: die Welt ist konstruierbar und jede und jeder kann selbst entscheiden, wie sie oder er sie gestalten möchte.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für das Stück!

 

„All about Nothing“
Konzept: pulk fiktion
Regie: Hannah Biedermann und Eva von Schweinitz
Mit: Norman Grotegut, Elisabeth Hofmann, Manuela Neudegger, Sebastian Schlemminger
Ausstattung: Stephanie Zurstegge, Choreografie: Elisa Hofmann

Die nächsten Termine im Freies Werkstatt Theater, Zugweg 10, 50677 köln
02. Oktober, 17., 18., 19. November 2016
 

Text: Alida Pisu

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