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Kultur

Die Utopie vor der Haustür

Freitag, 25. November 2016 | Text: Jörg-Christian Schillmöller | Bild: Meyer Originals

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Wir haben die Wahl. Wie wollen wir leben? Knapp zwei Stunden lang geht es um das ganz Große. Es ist 19.30 Uhr, es ist Herbst in Köln. Draußen rauscht die Nord-Süd-Fahrt, drinnen im Foyer des Max-Planck-Institutes für Gesellschaftsforschung bekommen wir Umhängebänder. Rot, blau oder grün? Wir müssen wählen, es entstehen drei Gruppen. 

 

In einer Auslage an der Wand liegen große Legosteine für uns, in sechs Farben. Jede Farbe steht für einen Bereich der Gesellschaft: Arbeit, Bildung, Soziales, Ernährung, Freizeit, Kultur. Wir sollen uns drei Steine nehmen aus den Bereichen, in denen wir Handlungsbedarf sehen. Ich nehme Soziales, Kultur und Freizeit. Dann geht es los.

 

„Erschöpfte Demokratie“ heißt das Projekt von „theater-51grad“. Es ist kein Theaterstück, es ist ein Feldversuch, mit uns, den Zuschauern. Im Untertitel heißt es „Ein Theaterabend als angewandte Utopieforschung.“ Was wir erleben, ist ein Experiment, ein Gedankenspiel. Es hat etwas Wissenschaftliches, es erinnert an eine Vorlesung, im Graubereich zwischen „möglich“ und „unmöglich“.

 

„Verlassen Sie Raum und Zeit.“

 

20 Uhr. Ein Mann in einem himmelblauen Anzug ruft „Haaallo!“. Er muss ein Mikrofon haben, seine Stimme klingt verstärkt. Ich entdecke eine kleine Box auf dem Schrank mit den vielen Postfächern der Mitarbeiter im Institut. Guter Sound. „Folgen Sie mir“, sagt der Mann, „verlassen Sie Raum und Zeit.“ Der Mann geht durch eine Tür, die mit braunem Packpapier verklebt ist. Das Papier reißt, wir folgen ihm durch Fetzen. 

 

 

„Ich bin eine Kunstfigur“, sagt der Mann, „ein Utopist.“ Er stellt sich auf einen leuchtenden Plastikhocker und spricht über Klimakatastrophe, Krieg und Arbeitslosigkeit. Über uns. Und darüber, dass Utopisten es 2016 schwer haben. Es sind verdichtete, starke Bilder. Der Mann erklärt, was jetzt passiert. Wir werden nacheinander drei Räume sehen. Jeder Raum hat ein Thema: Natur, Wirtschaft, Politik. Die drei Gruppen mit ihren Halsbändern teilen sich auf, jede Gruppe erlebt jeden Raum. Ich habe ein grünes Band, und meine Gruppe schaut sich als erstes ein uraltes, aber zukunftsweisendes Gesellschaftsmodell an: Das der Ameisen.

 

50.000 Individuen, 26 Grad Celsius

 

Der erste Raum. Es ist mal hell, mal dunkel, eine Frau in Weiß kommt aus einer Ecke auf uns zu, wir sitzen auf schwarzen Plastikhockern im Halbkreis. Vor uns steht ein Modell. Gut zwei Meter lang und einen Meter hoch. Es sieht aus wie eine Mini-Biosphäre, mit einem Zentrum und Satelliten. Ich sehe Kugeln, Gänge, Schläuche, und überall krabbeln Ameisen. Das Krabbeln wird auf Lautsprecher übertragen, das Geräusch kratzt und knistert, außerdem zeigt eine Minikamera die Ameisen vergrößert auf einem Bildschirm. 

 

Die Frau in Weiß erläutert uns das Modell: Eine Gesellschaft, die 150 Millionen Jahre alt ist. 50.000 Individuen, 26 Grad Celsius. Die Ameisen holen Blätter aus einem Vorratskolben, machen daraus Nahrung für einen Pilz. Der Pilz produziert einen Fetteiweißstoff, von dem sich die Ameisen ernähren. Mittendrin im Zentrum: die Königin. Sie gibt keine Befehle. Die Hierarchien sind flach. Jede Ameise – jedes Individuum – trifft eigene Entscheidungen. Wir lernen: Die Summe der Einzelentscheidungen macht die Handlungsstrategie der Zivilisation aus. Das ist Schwarmintelligenz. „Ein Staat braucht wie die Königin das Gefühl dafür, was die Gemeinschaft will“, sagt die Frau in Weiß. Habe ich das verstanden? Ich bin mir nicht sicher.

 

„Der finanzielle Druck ist klein“

 

Kurze Pause im Flur, dann folgt Raum zwei. Ein Konferenzraum, eine Frau in einem helloliv-farbenen Hosenanzug und transparenten Pumps. Nach der Natur folgt die Wirtschaft. Wir setzen uns um einen Tisch und holen unsere Legosteine aus den Taschen. Wir bauen Türme, in jeder Farbe, es entstehen sechs unterschiedlich hohe Türme – die für Arbeit, Bildung und Soziales sind die Höchsten. Das heißt: In diesen Bereichen sehen wir 2016 Handlungsbedarf. 

 

In „Europien“, dem Land der Zukunft, gibt es das bedingungslose Grundeinkommen. „Der finanzielle Druck ist klein“, sagt die Frau in helloliv. Für welchen der sechs Bereiche würden wir uns engagieren, wenn wir dieses Grundeinkommen hätten, wenn wir in der Zukunft lebten, in Europien? Jetzt wachsen die Legotürme Freizeit, Kultur und Ernährung. Interessant. Wir lernen auch den Gesellschaftsvertrag von Europien kennen: Acht Artikel. Grundeinkommen. Ressourcen sind Allgemeingut. Bürgergremien treffen die Entscheidungen, jeder hat die freie Wahl seines Arbeitsplatzes. Sowas in der Art.

 

Blaues Ding am Kopf

 

Dann wieder eine kurze Pause im Flur, inzwischen reden die Zuschauer mehr als in der ersten Pause. Dann lässt uns ein Mann in Orange in den dritten Raum. Natur, Wirtschaft – und jetzt noch Politik. Der Mann hat ein blaues Ding an der linken Schläfe, eine Art Implantat. Ein Cyborg? Drinnen eine ovale Tischreihe, acht leuchtende Bildschirme, vorne ein riesiger Touch-Flatscreen. Der Vorzeigeraum der Max-Planck-Stiftung, smart und klinisch.

 

 

Der Mann teilt hellblaue Smarties aus, auf denen „OPN“ steht. Glückspillen? Das OPN steht für Open Narrative, das Betriebssystem der Zukunft. Der Mann erzählt vom Verzicht auf Nationalstaatlichkeit, von der Abschaffung der Berufspolitker, von informierter Partizipation. Und von dem blauen Dingsda an seinem Kopf, dem „blue tank“, der jeden Bürger mit einer Datenwolke vernetzt, so dass jeder immer an alle relevanten Informationen gelangen kann. Ich denke: schick und unheimlich. Es hat etwas von „Matrix“, von Huxleys „Schöner neuer Welt“. Und was von „1984“. Ich frage mich, was mit den Querköpfen ist, mit denen, die „blue tank“ und Datenwolke doof finden. Koppeln die sich dann ab?

 

Was ist mit den anderen 7,5 Milliarden?

 

Natur, Wirtschaft, Politik: Der Abend ist fast rum, wir haben dreimal über eine mögliche Zukunft nachgedacht, in der die Menschen glücklicher sein könnten. Wenn sie wollten. Jetzt kommt die Abschlusskonferenz, alle drei Gruppen und alle vier Schauspieler reden 20 Minuten lang miteinander, in einem großen und sehr hellen Saal. Welche der Utopien ist plausibel? Beim Grundeinkommen können viele andocken, auch bei der Partizipation.

 

Eine Frau sagt, vielleicht seien Berufspolitiker doch nicht so schlecht, dass man sie gleich ganz abschaffen müsste. Ich bringe die Regionalisierung der Produktion ins Spiel, mit kurzen Wegen. Jemand antwortet: Gute Idee, aber nicht alle Ressourcen sind überall verfügbar. Stimmt auch. Dann hebt ein Mann die Hand: „Wir unterhalten uns hier über die 500 Millionen Menschen, denen es schon gut geht. Was ist mit den anderen 7,5 Milliarden?“

 

Der Wecker klingelt. Die 20 Minuten sind um. Der Abend ist vorbei. Es ist gleich 22 Uhr, und ich stehe wieder an der rauschenden Nord-Süd-Fahrt. Das war kein Theaterstück. Es war eine Reise durch Möglichkeiten, es war der Entwurf einer Zukunft. Zwei Stunden zwischen Realität und Science Fiction. Es gab viel Beifall für einen außergewöhnlichen, aufrüttelnden und ziemlich sinnvollen Nicht-Theaterabend.

 

 

„ERSCHÖPFTE DEMOKRATIE“

#1#revolution ein theaterabend als angewandte utopieforschung

Eine Produktion des theater-51grad.com, in Kooperation mit Freihandelszone – ensemblenetzwerk köln

 

Uraufführung: 23.11.2016, 20 h

 

Weitere Vorstellungen: 25./26./28./30.11.2016, jeweils um 20 h

Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

Paulstraße 3, 50676 Köln

 

Anmeldung: 0160 8020996
info@theater-51grad.com

 

 

Text: Jörg-Christian Schillmöller

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