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Kultur

Beklemmende Schreckensvision

Mittwoch, 18. Januar 2017 | Text: Alida Pisu | Bild: Barbara Siewer

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

So unterschiedlich wir Menschen auch sind, eines eint uns alle: am Ende des Lebens steht für jeden der Tod. Nur: wer weiß schon, wann der Tod naht? Und: ist es gerecht zu nennen, dass dieser über 90 Jahre alt wird und jener schon mit 15 Jahren aus dem Leben gerissen wird? Tabu-Thema Tod. Und Fragen, auf die eine Antwort zu geben, unmöglich ist. Weder philosophisch noch theologisch. Auch die Kunst vermag sie nicht zu beantworten, lediglich zu bearbeiten.

 

Düsterer Entwurf einer Zukunftsgesellschaft

 

Literaturnobelpreisträger Elias Canetti, der sich selbst als „Todfeind“ bezeichnete und sich über Jahrzehnte hinweg mit dem Thema Tod auseinandersetzte, schuf in seinem Drama „Die Befristeten“ den düsteren Entwurf einer fiktiven Zukunfts-Gesellschaft, in der jedem Menschen eine genau festgelegte Lebenszeit zugeteilt ist. Das Drama kam im „Theater am Sachsenring“ zur Aufführung, naturgemäß keine leichte, sondern schwere Kost, doch keineswegs unverdaulich.

 

Eine Bank, rechts von ihr ein Fenster, links von ihr ein Kasperletheater. Schon geht der Vorhang auf und zwei Figuren erzählen aus der guten, alten Zeit, als die Menschen noch Namen hatten und nicht wussten, wann sie sterben würden. Gott sei Dank, diese Zeiten sind längst vorbei! Gott? In dieser fiktiven Welt gibt es keinen Gott, wohl aber einen Glauben. An das eigene Sterbedatum, eingetragen in eine Kapsel, die jeder um den Hals trägt und die erst vom Kapselan, dem obersten Vertreter der Staatsmacht, geöffnet wird – nachdem der finale „Augenblick“ eingetreten und der Mensch an seinem vorbestimmten Todeszeitpunkt gestorben ist.

 

Allesamt mehr oder weniger angepasst

 

Zuvor aber hieß er Zwölf oder Achtundachtzig oder auch Fünfzig. Die Menschen heißen wie die Zahl ihrer Lebensjahre. An denen nicht zu rütteln ist. Sie liegen fest und käme irgendwer auf den Gedanken, sein Sterbedatum ändern zu wollen, er bräche den „Kontrakt“, den er – wie alle anderen ebenfalls – eingegangen ist und würde zum Mörder, weil er einem anderen von seiner Zeit raubte. So haben sie sich allesamt mehr oder weniger angepasst und die Regeln verinnerlicht, die nicht angezweifelt, geschweige denn gebrochen werden dürfen.

 

Sollen sie doch zur Zufriedenheit aller beitragen und dem Leben die Unsicherheit nehmen, die der große Veränderer Tod mit sich bringt. Die schlaglichtartigen, kurzen Szenen des Stückes beleuchten grell die Strukturen einer solchen Gesellschaft. Etwa die Szene, in der ein Junge seine Mutter fragt, wie lange sie noch leben wird. Er heißt Siebzig, sie Zweiunddreißig. Seine Mutter will nicht mit der Sprache heraus, niemand in diesem Staat will das, denn das wahre Alter ist das größte und ein gut gehütetes Geheimnis. Wenn auch an der Todesstunde nicht zu rütteln ist, so darf doch niemand wissen, wie lange noch…

 

Hundert Gute-Nacht-Küsse

 

Als sie ihm antwortet, sagt sie: „Du bekommst noch hundert Gute-Nacht-Küsse von mir.“ Schöner und herzzerreißender kann man eine solche Antwort nicht geben. Oder die Szene, in der zwei alte Weiber, umwerfend komisch gespielt von Heike Huhmann und Anna Möbus, kreischend die Herausgabe ihrer Kapseln verweigern, die Fünfzig an sich nehmen will. Erst als Fünfzig ihnen als Ersatz zwei neue Kapseln aus Gold anbietet, rücken sie ihre eigenen heraus, da die neuen Kapseln angeblich mehr Lebenszeit enthielten, so Fünfzig.

 

 

Fünfzig (Julian Baboi), der es als Einziger wagt, Zweifel am System zu äußern. Berechtigte Zweifel, denn wie sich herausstellt, nachdem Fünfzig einige Kapseln geöffnet hat: sie sind leer. Damit ist der Kontrakt als Lüge entlarvt, fällt der Glaube klirrend vom Sockel und das System erweist sich als unzulänglich. Wie letztlich alle Systeme oder auch Gesellschaften, die Menschen ein Regelwerk aufzwingen, das willkürlich anmutet.

 

Nicht besser, nicht schöner, nicht gerechter

 

Es hat schon seinen Reiz, sich auf Canettis Gedankenkonstrukt einzulassen, denn es gibt wohl kaum ein Thema neben der Liebe und dem Geld, das Menschen so sehr beschäftigt wie der Tod. Ob es der eigene ist, der irgendwann unausweichlich ist oder ob Geliebte, Freunde, Gefährten plötzlich nicht mehr da sind und alles Leben nur noch zu schweigen scheint.

 

Aber die Welt, in die Canetti uns hinein katapultiert, ist nicht besser, schöner, gerechter. Auch in ihr wird geherrscht: die Hohen (mit einer langen Lebenszeit) zählen mehr als die Mittleren (mittlere Lebenszeit) oder gar die Niederen (deren Lebenszeit nur kurz bemessen ist). Irgendeine Hierarchie wird es vielleicht zwangsläufig immer unter Menschen geben, doch diese ist ebenso beliebig wie alle anderen auch. Und auch sie lässt leiden. Nicht am Unvorhergesehenen, aber am Vorherbestimmten.

 

Keine endgültige Antwort

 

An beidem ist nicht zu rütteln. Das Eine ist ebenso unerklärbar und sinnlos wie das Andere. Starke Szenen und starke Gefühle, ob sie jetzt als Kasperletheater dargeboten werden (ein starkes Bild: die Zuschauer als Kinder, ebenso wie die Menschen, die in der Zukunft leben und nachplappern, was ihnen eingetrichtert wurde) oder ob doch immer wieder Trauer, Zweifel, Sehnsucht nach einer anderen Welt sich zaghaft ihren Weg bahnen wollen und Mühe haben, gehört zu werden.

 

Wunderbar, dass sie auf der Bank geäußert werden, denn was gäbe es Herrlicheres als eine Bank, die geradezu dafür prädestiniert ist, dass man auf ihr klatscht und tratscht, aber auch über all die Dinge spricht, die Herz und Hirn bewegen. Heike Huhmann und Anna Möbus, die immer wieder ihre Rollen wechseln und mal als Kollegen, als Kapselan, als Freund oder die bereits erwähnten alten Weiber auftreten, loten Grenzsituationen tiefgründig aus. Julian Baboi verkörpert den Typus, der zwar auch Selbstzweifel hat, sich von ihnen jedoch nicht beirren lässt, weil er die Wahrheit wissen und sie aller Welt mitteilen will. Wie er sich zum Helden, im Stück „Retter“ genannt, entwickelt, das ist allemal sehenswert. 

 

„Soll ich jetzt mein Geld sparen oder auf den Kopf hauen?“

 

Eine nachdenklich machende Inszenierung des Hausherrn Joe Knipp, die nicht so schnell abzuhaken ist. Weil sie sich sehr davor hütet, auch nur eine Frage beantworten zu wollen. Und das ist auch gut so. Theater muss Fragen stellen. Gerade dann, wenn es um die letzten, die existenziellen Dinge geht. Auf sie wird man nie eine endgültige Antwort geben können. Und so hörte die Rezensentin der Aufführung denn auch mit Interesse, wie eine Zuschauerin ihrer Begleitung zuflüsterte: „Soll ich jetzt mein Geld sparen oder auf den Kopf hauen? Wenn ich wüsste, wann ich sterben würde, dann würde ich ja vorher noch mal in Urlaub fahren. Aber man weiß es ja nicht…“ SO ist es.

 

 

„Die Befristeten“ von Elias Canetti

Inszenierung: Joe Knipp

Dramaturgie: Dr. Sabine Dissel

Bühne und Kostüme: Hannelore Honnen

Mit: Heike Huhmann, Anna Möbus, Julian Baboi.

 

Theater am Sachsenring, Sachsenring 3, 50677 Köln

Weitere Termine: 19., 20., 21. Januar, 09., 10., 11. März 2017

Text: Alida Pisu

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