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Glaube

„Was soll der ganze Scheiß?“

Donnerstag, 2. November 2017 | Text: Nora Koldehoff | Bild: Tamara Soliz

Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten

Die Aktion drohte um ein Haar zu enden, bevor sie wirklich begonnen hatte. Rund 200 Zuschauer hatten sich auf dem Platz versammelt, um die selbstbewusst als „Reformation II“ angekündigte Ausrufung einer neuer These zu hören, als es zu Unstimmigkeiten zwischen dem Kirchenmann und der staatlichen Obrigkeit kam. Diesmal ging es allerdings nicht um Martin Luther, sondern um Hans Mörtter, Pfarrer in der Südstädter Lutherkirche.

In Anlehnung an den „performativen Akt des Thesenanschlags“ – sei er so vonstatten gegangen, wie überliefert, oder auch anders – der den Inhalt der Worte erst „lebendig mache“, gestaltete sich Mörtters neue Reformation bewusst provokativ. Dass eine Provokation allerdings von Seiten Luthers beabsichtigt war, wird von Kirchenhistorikern angezweifelt. Selbst mit dem legendären Nageln der Thesen an die Kirchentür nicht, denn dies war wohl für derlei Vorbringungen damals eine gängige und oft vollzogene Vorgehensweise.

Am Chlodwigplatz jedenfalls durfte es nach einer kurzen Diskussion mit zwei Polizisten, ob die Aktion als unangemeldete Demonstration zu werten sei, dann aber doch losgehen. Routiniert stellte sich der Pfarrer mit je einer deformierten Luther-Figur in der Hand für die Presse in Pose und demonstrierte damit die Ergebnisse der vorangegangenen Tage: Seit Freitag, dem 27. Oktober, war für die Kölner Aktion in 95 europäischen Städten stündlich je eine Luther-Playmobil-Figur auf einer Kochstelle geschmolzen und mit dem Anfangsbuchstaben der jeweiligen Stadt versehen worden. Zusammengesetzt ergeben sie die neue These „Für uneinschränkbare Nächstenwürde mit respektvollster Menschenliebe und grenzenlosestem Grundvertrauen“. Ausgedacht hatten sich die Aktion der Kurator der Ausstellungen in der Lutherkirche Rochus Aust und Mörtter selbst.

 


„Für uneinschränkbare Nächstenwürde mit respektvollster Menschenliebe und grenzenlosestem Grundvertrauen“

Hans Mörtter fasste in einer kurzen Ansprache zusammen, worum es Aust und ihm bei der Kunst-Intervention „L95h“ ging. Die Reformations-Feierlichkeiten im Jubiläumsjahr hätten statt der Gegenwart die Vergangenheit im Blick und seien erst recht nicht in die Zukunft gerichtet. Außerdem stehe allein Luther im Mittelpunkt, obwohl es in der Reformationsgeschichte auch andere wichtige Köpfe gegeben habe – so der Pfarrer der immerhin nach diesem Reformator benannten Kirche. Die Vermarktung der Luther-Figur als Spielzeug – und dann noch exklusiv über die Evangelische Kirche Deutschland – symbolisiere für ihn zudem eine inhaltsleere Kommerzialisierung der Person. Wenn Luther selbst die Reformationsfeierlichkeiten verfolgen könnte, so der Pfarrer, würde er sicherlich ausrufen „Was soll der ganze Scheiß?“.

„Verzicht auf Spektakel“

Angekündigt hatte Hans Mörtter nicht weniger als die Ausrufung einer neuen, eigenen These zum 500. Reformationsjubiläum. Dafür habe man sich bewusst – und, so der Pastor, „ohne Spektakel“ – nicht in die eigenen Kirchenmauern zurückgezogen, sondern an einen öffentlichen Platz begeben, an dem schon die „Arsch-huh“-Bewegung ihren Anfang nahm.
Die These blieb als angekündigt „grundmenschliche Ansage“ dann eher unkonkret und sollte mit drei „Einwürfen“ ergänzt werden, zu deren Formulierung die Teilnehmer*innen in einer Prozession zur Lutherkirche zogen. Begleitet wurde der Zug von einer Klanginstallation: Aus Zink-Schalltrichtern tönte eine Soundcollage unterschiedlichster akustischer Elemente aus verschiedenen Religionen: Glockenläuten zum Beispiel, Muezzinrufe und Gesänge.

Im Innenhof der Lutherkirche stellte Mörtter seine drei Einwürfe dann vor. Er forderte als Kerngedanken einer „Reformation II“ eine „respektvolle Menschenliebe“ gemäß der von Jesus laut Lukasevangelium gemachten Vorgabe: „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch.“

Danach wandte sich Mörtter gegen die von ihm so genannte „kannibalistische Weltordnung, die Gier der Kapital-Märkte, die Herrschaft der Finanzoligarchie und der transkontinentalen Agrarkonzerne“ und nannte sie den „Antichristen der Moderne“: Dass täglich weltweit 35.000 Kinder an Hunger und Unterernährung sterben, sei mit einem glaubwürdigen Christentum nicht vereinbar. Außerdem bezeichnete er die Angst als Herrschaftsinstrument, die Fremdenfeindlichkeit wie Populismus nähre. Ihr gelte es, sich entgegen zu stellen.

 


„Reformation II“ im Innenhof der Lutherkirche.

Und schließlich sei es Zeit für eine neue, globale Ökumene, die den Alleinvertretungsanspruch der christlichen Kirchen beenden und endlich in einen echten Dialog auch mit anderen Religionsgemeinschaften eintreten müsse: „Glaube ist nicht statischer Besitz der christlichen Kirchen“, so Mörtter.

Wahre Worte, aber unter den Anwesenden und darüber hinaus eben auch weitestgehend konsensfähige – der geistige Zündstoff erschloss sich nicht unmittelbar. Die Positionen würden wohl nicht nur die meisten Teilnehmer*innen der Reformationstagsaktion an der Lutherkirche bedenkenlos unterschreiben. Warum dafür eine von Mörtter geforderte „Reformation II“ nötig sei, wird nicht ganz klar. Schon seit Jahrzehnten sind es gerade die christlichen Kirchen, die sich für den jüdisch-christlichen Dialog engagiert haben. Auch bei der Annäherung zwischen Christentum und Islam spielen sie eine zentrale Rolle – auf Gemeindebasis bis hinauf in die Kirchenleitungen und auch Konfessionslosen stehen inzwischen viele Kirchen offen.

Das heißt nun beiweitem nicht, es sei alles getan – ein Hinterfragen und vor allem ein Erwachsen des Handelns aus Gedanken und Diskussionen bleiben in der Tat zentral und gerade heute aktueller denn je. In der Kirche ebenso, wie der Politik und der Gesellschaft und im Kleinen, wie auch global. Die Reformation der Kirche aber war nicht als abgeschlossener Prozess gedacht – und ist es bis heute nicht. Die knifflige Frage bleibt allerdings, wie Kirche aktuell sein kann, ohne sich in einem Modernisierungswettkampf zu sehen, der zu Lasten des Inhaltes geht. Denn der Inhalt ist nunmal das eigentliche Pfund, mit dem die Kirchen wuchern können.

Text: Nora Koldehoff

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