Vom REWE-Parkplatz, der seine Unschuld verlor
Samstag, 26. März 2011 | Text: Kathrin Rindfleisch
Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten
Und so kam es, dass ein Auto samt dreijährigen Insassen in mittelschwere Gefahr geriet, obwohl eine erwachsene Person mit Aufsichtspflicht gegenwärtig war.
Und so kam es, dass ein Auto samt dreijährigen Insassen in mittelschwere Gefahr geriet, obwohl eine erwachsene Person mit Aufsichtspflicht gegenwärtig war. Zumindest saß sie mit im Wagen, und alles schien unter Kontrolle – so dachte Alex, als sie ihren Sohn Paul, meine Tochter Smilla und…mich kurz allein im Auto ließ, während sie schnell im REWE ein paar Sachen fürs Abendessen besorgen ging.
Kaum ist die eine Mutter außer Reichweite und sie in der Überzahl, versuchen die beiden, die Herrschaft über das Auto an sich zu reißen. Smilla klettert aus ihrem Kinder- nach vorne auf den Fahrersitz und fragt nicht, nein!, verkündet, dass sie jetzt fahre. Und Paul macht sich’s auf der Kofferraumablage bequem, nicht ohne die Anweisung zu erteilen, Smilla möge doch bitte schneller fahren. Ich kralle mich an meinen Sitz und sehe mit an, wie Smilla mit Hilfe der Scheibenwischanlage den soliden Skoda meiner Freunde auf Touren bringt, die arme Kupplung wird zum ungewollten Komplizen, und als Paul von hinten über die Handbremse steigend der Kamikazefahrerin zeigt, wo in Dreiteufels Namen sich die Hupe des Rennwagens wider Willen befindet, gibt’s kein Halten mehr! Dem friedlichen REWE-Parkplatz fährt es durch Mark und Bein, Menschen blicken ängstlich hinter ihren Einkaufswagen hervor, ein Orange kullert erschrocken aus ihrem Netz, irgendwo fällt etwas klirrend zu Boden. Doch Genaues kann ich nicht ausmachen, das schrille Gelächter der beiden Mutter-Kidnapper, das mit Steven Tyler`s „Crying“ aus dem Radio um die Wette lärmt, ermöglicht mir das nur vage Erahnen einer Geräuschkulisse außerhalb dieses Höllenschiffs.
Der Schlüssel steckt im Zündschloss, die Waschanlage holt innerhalb von Minuten ihren Job der letzten drei Wochen nach, die Lichthupe macht der Oma auf dem Bürgersteig klar, dass sie ihrer Gehhilfe lieber schnell Beine machen sollte, um nicht unter die Räder zu kommen, und was macht die gekidnappte Mutter? Etwa ihre verdammte Aufsichtspflicht erfüllen?! I wo. Sie erinnert sich lächelnd an Supermarktparkplätze. An Toyotas und Udo Jürgens-Musik. An Beine, die zu kurz sind, an die komischen Pedale da unten zu kommen. An ein Lenkrad, dass sich so wunderbar hin und her bewegen ließ. An Scheibenwischer, die das taten, was man ihnen auftrug. An einen Bruder, der auch mal nach vorne wollte. An das gute Gefühl, die große Schwester zu sein und zu bestimmen. An das kribbelnde Gefühl, das Knöpfchen runter zu drücken und für kurze Zeit eingesperrt zu sein. Die Mama auszusperren. An die Macht hinter dem Lenkrad.
„Ich muss mal! Pipi. Jetzt!“ Ok, was nun? Was jetzt? Wohin?! Waaaahhhhh!!!! „Smilla, du bleibst im Auto, ich geh mit Paul Pipi machen. Wir sind gleich zurück, ok?“ Smillas seltsames Lächeln hätte mich an dieser Stelle stutzig machen sollen, doch dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Wie eine Irre rannte ich, Paul im Schlepptau, über den unschuldigen REWE-Parkplatz in der Hoffnung auf eine schuldige Stelle, irgend ein verborgenes Gebüsch. „Ok Paul, hier ist etwas Gras. Hier kannst Du Pipi machen!“ Hose runter, Männlein raus. „Kannst Du das schon alleine?“ fragt sie und ist schon unterwegs. Zum Skoda, dessen Fahrerin nicht mal autorisiert ist, „Bambi“ zu gucken, geschweige denn ganz allein, mit Schlüssel im Zündschloss hinter seinem Lenkrad zu sitzen. Doch die Fahrerin kuppelt, wischt die Scheiben und lächelt mächtig stolz hinter den halb runtergelassenen Fenstern des Vehikels. An der Front also alles klar, dann nix wie zurück zum Pinkelprinz! Der ist längst mit dem fertig, was mich erst in derart missliche Aufsichtsverletzungslage gebracht und kommt mir mit unverschlossener Hose stolz grinsend über den ab heute nie mehr unschuldigen REWE-Parkplatz entgegen: „Ich hab ganz alleine Pipi gemacht! Ohne Erwachsene!“ Aus den Augenwinkeln nehme ich Alex wahr, die sich leicht irritiert dem Wagen ihres Vertrauens nähert. Sich doll wischende Scheibenwischer, ein Lichthupkonzert vom Feinsten und eine verlassene Fahrerin, die mit dem Zündschlüssel hantiert…ich glaub, ich muss da jetzt erst mal was erklären…
Am Ende sitzen wir alle im Auto auf dem Weg zum von der Mutter gekauften Abendessen, Smilla glücklich lächelnd ob ihrer wilden Spritztour, Paul stolz grinsend ob seiner ersten Pipi-Aktion. „Ohne Erwachsene“, ich, die sich nicht zum ersten Mal fragt, ob ich nicht irgendwie mutterhafter sein sollte, strenger, überlegter, aufpassender, und Alex, die mich laut fragt, warum ich denn nicht einfach das Gebüsch genommen hätte, genau vor dem Auto. Sie hat einfach nicht verstanden, dass wir schon lange nicht mehr auf dem Parkplatz standen. Smilla hat echt das Letzte aus der soliden Kiste rausgeholt…
Text: Kathrin Rindfleisch
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