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Gesellschaft Kultur Politik

Gute Orte, schlechte Orte – eine doppelte Stadtführung

Freitag, 8. April 2011 | Text: Doro Hohengarten | Bild: Dirk Gebhardt

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Es fing an, wie diese Geschichten immer anfangen. „Zu allem habe ich Ja gesagt, bin mitgelaufen. Dann kamen die familiären Probleme. Ich hatte kein soziales Netz. Eines Tages traf ich einen Bekannten, der saß auf einer Bank und bot mir ein Bier an. Ich sagte ja. Das war der Anfang, und wenn nicht ’ne Menge seitdem passiert wäre, würde ich heute immer noch auf dieser Bank sitzen“.

Mehr sagt Reiner Nolden nicht über seinen Abstieg. Seine knochigen Finger, seine eingefallenen Schultern, seine hohlen Wangen reden davon, dass ihm die Jahre auf der Straße Lebenszeit weggefressen haben. Es ist sein persönlicher Triumph, dass er heute hier stehen kann – im Wind der Domplatte, mit leiser Stimme neben dem Bass Martin Stankowski.

Es hätte auch anders kommen können, hätte er nicht den Strohhalm ergriffen, den ihm die Leute von der „Oase“ und dem „Draußenseiter“ angeboten haben. Hätte er nicht die Therapien beendet, wäre er nicht zum Magazinvertriebler geworden, hätte er sich nicht auf einen festen Wohnsitz und die Liebe zu seiner heutigen Ehefrau eingelassen.

Zwei Dutzend Menschen umrunden Nolden, den Ex-Berber, und Stankowski, den Journalisten, Autor, Moderator aus der Südstadt. Ein neugieriges, interessiertes Publikum, vornehmlich Paare zwischen 30 und 60. Sie besuchen zwei Stadtführungen in einer: „Bürger oder Berber“ heißt das Programm, veranstaltet vom alternativen Reiseveranstalter Stattreisen e.V.. Nolden ist für die Berber-, Stankowski für die Bürgersicht zuständig. Stankowski erzählt mehr, Nolden weniger. Er kam etwas unverhofft zu seiner Aufgabe. Eigentlich hätte an seiner Stelle heute der Kleine Günther stehen sollen, ein stadtbekannter Berber. Doch der Kleine Günther kam nicht.

Nun also umkreist Nolden mit Stankowski den Dom. Eher in loser Plauderei als in einem Vortag, erfahren die Teilnehmer davon, wie Obdachlose die Stadt sehen. Dass Orte für sie oft eine ganz andere Bedeutung haben als für die meisten anderen Bürger. Dass es verschiedene Kulturen der Obdachlosigkeit gibt.

Die Tradition des Bettelns, damals und heute: „Hier am Südportal des Doms gab es Bettelplätze in acht Reihen“, berichtet Stankowski aus dem Mittelalter. „Sie wurden von Generation zu Generation weiter vererbt, so begehrt waren sie.“ Nolden: „Ich mochte nicht an einem Ort sitzen und betteln. Ich schämte mich, also wanderte ich durch die Straßen und sprach Leute an. An guten Tagen kamen 30 bis 35 Mark zusammen. Heute redet man nicht mehr darüber, was man einnimmt“.

Die altrömischen Sarkophage vor dem Römisch-Germanischen Museum: sarko, erklärt Stankowski, heißt Fleisch, phag fressen: Fleischfresser – irgendwann blieben von den Toten nur die Knochen übrig. Für einige Berber fungierten noch in den 90er Jahren die letzten Ruhestätten der Römer als Nachtlager – bis daraufgeschraubte Metallplatten das verhinderten.

 

„Woher kommt das eigentlich: Platte machen?“ will Stankowski von Nolden wissen. „Die Platte ist der Ort, an dem du schläfst. Niemals, niemandem, verrätst du, wo deine Platte ist. Das ist gefährlich.“ Noldens Platte lag versteckt in einem Schrebergarten in Nippes. Aber es gibt auch die, die an hellen, lauten Orten ihr Lager aufschlagen – am Rande befahrener Straßen etwa. Warum an solche Stellen? Aus Sicherheitsgründen, denn es kommt immer wieder zu Überfallen: „Jüngere Angetrunkene, die ihre Aggressionen loswerden wollen. Diebstahl untereinander“.

Der Dionysos-Brunnen, ein Unort unterhalb der Domplatte am Museum. Rund um die zugemüllte Skulptur der griechischen Lustgottheit ist es schattig, die Luft riecht nach Urin. „Teufelsbrunnen“ nennen die Wohnsitzlosen den Ort, mit der Dionysos-Gestalt können sie nichts anfangen. In den 80ern und 90ern, berichtet Stankowski, lieferten sich hier drogensüchtige Obdachlose und die Polizei ein tägliches Katzmaus-Spiel. Ende der 90er war Schluss damit. Die Junkies wurden in die äußeren Stadtteile vertrieben: Die Polizei setzte einfach die Schlafplätze unter Wasser.

Der Bahnhof: Für die meisten Menschen ein Verkehrsknotenpunkt, ein Ort des Aufbruchs, des Fernwehs vielleicht. Aus Berbersicht: Der Ort, an dem die Bahnhofsmission längst keine Suppenküche mehr für Obdachlose betreibt, sondern nur noch gestrandete Reisende versorgt. „Für mich war klar: Vom Bahnhof hältst du dich fern. Da gibt es nur Ärger – Durchsuchungen, Händel mit anderen. Ein schlechter Ort“.

Gute Orte, das erfahren wir auf dieser Wanderung rund um den Dom, sind in den vergangenen Jahren viele entstanden. Anlaufstellen, in denen es nicht nur etwas zu essen und zu trinken gibt, sondern auch Menschen, die sanft versuchen, das Vertrauen von Obdachlosen zu gewinnen, um ihnen den Ausstieg aus dem Leben auf der Platte zu ermöglichen.

Wie die „Oase“ in Deutz. Wer dort ankommt, wer dort längere Zeit im Café  hängen bleibt und mit den Sozialarbeitern ins Gespräch kommt, der kann vielleicht eines Tages als Zeitschriftenverkäufer für das bemerkenswerte Magazin „Draußenseiter“ anfangen. Einkauf 80 Cent, Verkauf 1 Euro 60 – die Differenz ist ein erster regelmäßiger Verdienst, der Verkauf eine erste regelmäßige Aufgabe. Folgerichtig kommt der Erlös der Führung auch dem Magazin „Draußenseiter“ zugute.

Neben diesen von Geschäftsleuten unterstützen und von der Stadt und den Kirchen getragenen Einrichtungen gibt es in Köln auch viele engagierte Einzelbürger. Wie die fliegenden Friseure, die den Obdachlosen am Appellhofplatz, in Sichtweite des Stadtmuseums und des WDRs, bis vor wenigen Jahren noch einmal im Monat kostenlos einen Haarschnitt verpassten. Oder die Dame, die einmal die Woche an der Domplatte kostenlos Äpfel verteilt. Oder die Köche, die gegenüber des Zeughauses Suppe verteilen.

Ist mehr solches Engagement wünschenswert – oder hat nicht die Stadt, der Staat die Aufgabe, Fürsorge zu gewährleisten? Reicht es, wenn ein paar Engagierte handeln, oder muss die Gesellschaft insgesamt mehr Verantwortung übernehmen, um den Absturz Einzelner aus ihrer Mitte zu verhindern und aufzufangen? Auch solche Fragen wirft Stankowski in die Runde. Und dann wird klar: Bei diesem Rundgang geht um weit mehr als das Spektakel der Parallelwelt.

 

Am Ende nimmt keiner endgültige Antworten mit nach Hause. Aber natürlich einen „Draußenseiter“ aus Reiner Noldens Hand.

 

Die nächste Führung „Bürger oder Berber“ findet an diesem Mittwochnachmittag (14.4., 14 Uhr) statt.  Anmeldeinfos dazu findet Ihr hier.
 

Text: Doro Hohengarten

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