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Bildung & Erziehung Kultur Südkids

Alptraum Schule

Dienstag, 20. Oktober 2015 | Text: Alida Pisu | Bild: Meyer Originals

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

„Fick dich, Alter!“, ein Satz, der häufig benutzt und durch die Klasse gebrüllt wird. Laut und aggressiv. Getränkt von Wut, von Empörung und gezielt eingesetzt, um zu provozieren. Die Mitschüler. Oder den Lehrer. Möchte man Schüler in einer solchen Klasse sein? Oder gar Lehrer?

François Bégaudeaus 2006 in Frankreich erschienener autobiographischer Roman „Entre les murs“ gibt die Erfahrungen wider, die Bégaudeau als Literatur- und Französischlehrer in einer Pariser Vorstadt gemacht hat. Der Roman diente als Werkvorlage für den Film „Die Klasse“, der u. a. 2008 mit der Goldenen Palme bei den Filmfestspielen von Cannes ausgezeichnet wurde. Das Theater Der Keller inszenierte nun eine Bühnenfassung (Markus Seibert) nach dem Roman.

Und die ist starker Tobak. So faszinierend wie fassungslos machend und viele Fragen aufwerfend. Etwa die, ob die Fähigkeit, das Futur II konjugieren zu können, nicht an der Lebensrealität von Schülern völlig vorbeigeht und ihnen sinnlos erscheinen muss. Oder die, wie man in jungen Menschen die Begeisterung für Poesie, für Literatur und die Schönheit von Sprache wecken will, wenn sie doch selbst eine harte, brutale Sprache sprechen und nur diese zu verstehen scheinen. Und natürlich auch die Frage, wie und warum Schule zur Hölle für alle Beteiligten werden kann und ob es einen Weg aus der Hölle heraus gibt. Zumindest auf diese Frage gibt die Inszenierung eine beklemmende Antwort.  

Niedlich sehen sie aus auf den Kinderbildern, die auf die Wand projiziert werden, während sie nach und nach zum Unterricht erscheinen. Und sich setzen, auf ihren Platz hinter der Schulbank. Wortlos, ohne eine Miene zu verziehen. Bis der Lehrer erscheint, den Lehrplan erfüllen will und Aufgaben stellt. Da drehen sie auf, reagieren spöttisch, desinteressiert, verweigernd oder provozieren ihn. Schüler: „Ich hab Gerüchte gehört, Sie stehen auf Männer?“ „Ein Beispiel für Futur II Passiv: ich werde geblasen worden sein.“ Schüler-Chor: „Wir haben uns beim Vertrauenslehrer über Sie beschwert.“

 

In der Haut dieses Lehrers möchte man nicht stecken, zu grenzüberschreitend sind die Machtspielchen, zu unverschämt und respektlos zeigen sich die Schüler ihm gegenüber. Sie, die sich von ihm nicht respektiert fühlen und immer wieder seinen Respekt einfordern. Und dabei ein Inferno entfesseln, dem man sich nicht zu entziehen vermag. Es wird mit harten Bandagen gekämpft und in einem irren Tempo, das keine Minute zur Ruhe kommen lässt. Einerseits haben diese Jugendlichen etwas monströs Gewalttätiges, wenn sie übereinander herfallen, sich mit Worten und mit Schlägen attackieren, dabei auch den Lehrer nicht verschonen. Andererseits zeigen sie auch zarte, bedürftige Seiten, etwa dann, wenn sie im Chor Rilkes „Der Panther“ rezitieren: „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe / so müd geworden, dass er nichts mehr hält. / Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.“

DAS ist ihr Lebensgefühl. Desillusionierte Existenzen mit brüchigen Biographien. Die nicht nur morgens durch die Klasse wuseln, um zu ihrem Platz an der Schulbank zu gelangen, sondern die auch ihren Platz im Leben suchen. Aber sie sind ausgesondert, durch’s Raster gefallen wie Lucie, die schon X Schulen besucht hat, nur auf Probe in der Klasse ist und ihre letzte Chance unbedingt nutzen will. Sie scheitert. An sich selbst. Aber sicher auch am System, das einen Lehrer einer Klasse von Schülern gegenüber stellt, die viel mehr als nur einen Pauker und Abfrager bräuchten. Nämlich mindestens noch einen Motivator, einen Sozialarbeiter und einen Pädagogen.

 

Allesamt mit der Aufgabe, aufzuarbeiten, was an Horror im Hintergrund lauert: kaputte Familien, Beziehungslosigkeit, fehlende Vermittlung von Werten.  
Kann Schule das leisten? Nein, kann sie nicht! Deshalb fliegt Lucie raus. Deshalb bricht es aus dem zunehmend hilfloser agierenden Lehrer heraus: „Ich hab die Schnauze voll. Habt Ihr gesehen, wie die rumbrüllen? Wie die Tiere. Wie wilde Tiere. Irgendwann bringe ich einen von denen um.“ Und deshalb rächen die Schüler sich am Lehrer, den sie für Lucies Rausschmiss verantwortlich machen, indem sie sich gegen ihn verbünden und auf seinen Rausschmiss hinarbeiten.

Im Schlussbild, als sie nebeneinander stehen und jeder über seinen Traum von dem erzählt, was er in zwanzig Jahren sein wird, keimt noch einmal Hoffnung auf. Denn eigentlich träumen diese Jugendlichen davon, wovon alle träumen: ein Heim zu haben, eine Familie, einen guten Job. Und davon, keine Angst mehr zu empfinden, frei entscheiden zu können. Also doch: ein Happy End ist möglich? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn als Letzte erscheint Lucie, die sich mit einer Hand über’s Gesicht wischt – und es ist blutverschmiert. Sie sind und bleiben eben brüchige Existenzen.

 

Wenngleich das Stück nur schwer zu ertragen ist, so ist es doch gerade auch aus diesem Grund absolut sehenswert. Den Finger in offene Wunden zu legen, so dass es schmerzt, ist immer schon Ziel politischen Theaters gewesen. Wenn wir Missständen gegenüber gleichgültig sind, wird sich nichts ändern. Da muss gebrüllt, gelitten, um Antworten und Lösungen gerungen werden. Dazu fordert „Die Klasse“ uns unmissverständlich auf.

Das Ensemble liefert eine beeindruckende Leistung ab. Vom Lehrer (Jonas Müller-Liljeström), der das Beste für seine Schüler will, jedoch an ihnen und am System zerbricht, bis zum letzten Schüler. Die DarstellerInenn der Schüler kommen aus der Abschlussklasse der Schauspielschule. Zu ihnen gesellen sich noch drei Laiendarsteller, die von den Profis nicht zu unterscheiden sind. Die eigenen Erfahrungen der Darsteller sind in ihre Rollen mit eingeflossen. Und das merkt man ihnen auch an. Sie sind authentisch und glaubwürdig. Regisseur Nils Daniel Finckh hat eine unter die Haut gehende Inszenierung geschaffen, die einen düsteren Ton hat. Trotzdem bricht sich jugendliche Lebensfreude immer wieder Bahn. Wenn sie alle zusammen rappen: „I love the bitches!“, dann weiß man: es ist nicht totzukriegen, das Leben.

 

„Die Klasse“? nach François Bégaudeau

Bühnenfassung Marcus Seibert
Mit: Christoph Bertram, Pia-Leokadia Bucindika, Frank Casali, Rosana Cleve, Lisa Conrad, Lena Gudrian, Justice Ekpemandu, Jamal Khalat, Raphaela Kiczka, Jonas Müller-Liljeström, Armel Ouahoflo Nangbo, Odilon Pembele, Swantje Riechers, Stefanie Winner
Inszenierung: Nils Daniel Finckh

Theater der Keller, Kleingedankstraße 6, 50677 Köln
Die nächsten Termine: 13., 20., 29. Oktober, 10., 20., 21., 27. November 2015

 

Text: Alida Pisu

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