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Südstadt

Als Dr. Alexandridis mir meine Weisheit nahm

Montag, 27. Dezember 2010 | Text: Sonja Alexa Schmitz | Bild: Rosario Van Tulpe

Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten

Gestern ist was passiert! Gestern hat schon Tage vorher Schatten geworfen, die nur durch konzentriertes Nicht-dran-Denken weggepustet werden konnten. Ich musste zum Zahnarzt. Gestern. 14 Uhr. Zuvor stand ich noch auf dem Markt. Ganz banal, zusammen mit so vielen anderen. Ich bekomme heute einen Zahn gezogen. Ich machte Gymnastik zusammen mit anderen. Wie jeden Dienstag. Am Morgen vor einem normalen Dienstag. Ist kein normaler Dienstag. Heute ist Zahnarzt-Dienstag. Weisheitszahnziehdienstag. 14 Uhr. Ich stehe am Pult, vor der Zahnarzthelferin. „Hallo, ich habe jetzt einen Termin.“ Sie blättert hin und her, schaut und schaut, sagt: „Sie stehen hier heute nicht drin. Sie sind für nächsten Dienstag eingetragen.“ Nein, nein, nein, das geht nicht. Ich habe mich mental darauf vorbereitet, dass es heute sein würde. Ich habe nicht nur mich, sondern sämtliche liebe, sorgenvolle Freunde und Mütter darauf vorbereitet. Ich war auf dem Markt und dachte an Zahnarzt. Ich war beim Sport und dachte an Zahnarzt. Ich kann jetzt nicht heimgehen, mit diesem Zahn im Mund. Vor allem nicht mit dem Gefühl, es hinter mich gebracht zu haben. „Dann muss das ein Missverständnis sein. Ich bin ganz sicher, dass ihre Kollegin mir diesen Termin gemacht hat.“ „Gut, dann nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Es kann aber eine Weile dauern.“

Oje, noch länger warten. Alle, die wissen, dass ich um 14 Uhr auf dem Stühlchen sitzen werde, müssten nun eigentlich informiert werden, dass sie nicht umsonst an mich denken sollen. Kaum zu Ende gedacht, sagt jemand: „Frau Schmitz bitte.“ Schmitz bin ich. Kann aber nicht ich gemeint sein. Ich muss doch noch warten. Schmitz heißt ja auch hier in dieser Stadt jeder Zehnte. Es steht aber niemand auf. Na gut, wenn sonst kein Schmitz will, dann geh ich eben. Soll ja auch keiner meinen Zahn gezogen bekommen. Wobei, wenn das jemand anderes für mich erledigen könnte, wäre das eine feine Sache. Ich sitze auf dem blauen Stuhl und Herr Doktor setzt sich neben mich. Klingt gemütlich. Aber jeder weiß, dass das Bild trügt. Herr Doktor setzt die Spritze in meinen Hals, warnt, dass es jetzt unangenehm ist, und lobt, dass ich nicht mal mit der Wimper gezuckt habe. „Ich bin Zahnarzt-Profi,“ protze ich. Nachdem ich noch ein paar Minuten mit meinem scheinbar gewaltig anschwellenden Rachen alleine bleiben darf, kommt er wieder und legt sich schon ins Zeug. Ins Zeug ist in dem Fall mein Mund. Er macht irgendwas. Ich höre ein leichtes Knirschen und dann seine Stimme: „So, das war’s.“ „Machen Sie Witze?“, würde ich gerne sagen, wenn ich etwas artikulieren könnte. Er sagt „Auf Wiedersehen“, und ich will ihn nicht gehen lassen. Er kann doch noch nicht fertig sein?! Das hat jetzt nicht mal fünf Minuten gedauert. Ich habe ungefähr vier Tage lang dunkle Wolken weggepustet für nicht mal fünf Minuten Tortur. Und es war noch nicht mal Tortur? Er lässt sich von mir nicht mehr in ein Gespräch verwickeln, er ist schon aus dem Raum. Die Sprechstundenhilfe kann so schnell nicht weg, muss ja noch aufräumen. Ich sitze immer noch auf dem Stuhl und bin verwirrt. Ich erzähle ihr, dass ich verwirrt bin, dass mir das jetzt alles zu schnell ging. Gott sei Dank entdecke ich meinen Zahn. Er liegt blutig und einsam auf dem Tabletttisch. Den will ich mitnehmen. Dann habe ich wenigstens was Greifbares, wenn schon die Erinnerung aufgrund der geringen Zeit nichts hergeben wird. Ich kann die Sprechstundenhilfe nicht länger aufhalten. Sie hat auch überhaupt keine Lust auf mich. Meine Verwirrung findet sie weder lustig, noch interessant. Also muss ich gehen.

Jetzt eigentlich fängt erst das Unangenehme an. Ich beiße brav die Zähne zusammen, um damit den blutsaugenden Wattebausch festzuhalten. Es ist eklig. Alles schmeckt nach Blut. Ich denke an Tampons. Tampon im Mund, muss sich wohl so anfühlen. Solche Gedanken kann ich nur haben, weil ich gerade Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ gelesen habe. Nach ner halben Stunde soll der Tampon raus. Stundenlang blutet es nach, und ich hoffe, dass das alles normal ist. Wenigstens bleibt das Blut in mir, ich verliere kein Blut, denke ich. Ich trinke es ja gleich wieder. Das ist wohl ziemlich naiv gedacht. Und klingt auch wieder sehr nach Charlotte bzw. Helen. Irgendwann ist der Zahn nicht mehr im Vordergrund. Der Blutgeschmack nicht mehr so präsent. Ich traue mich mal mit der Zunge an den Krater. Und irgendwann habe ich mich auch an den gewöhnt. Alles gut. Ein Freund sagt mir, nun käme die Zahnfee. Das klingt gut. Nun brauche ich noch einen Schlusssatz. Will mir keiner einfallen. Dann lasse ich euch eben genauso perplex stehen, wie der Herr Doktor mich hat stehen lassen.

Text: Sonja Alexa Schmitz

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