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Gesellschaft

Auf einen Apfel mit Valentin Thurn

Sonntag, 30. September 2012 | Text: Doro Hohengarten | Bild: Karsten Schöne

Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten

Ein säuerlich-frischer Duft umschmeichelt Valentin Thurn, als ich ihn in Sülz im Büro seiner Filmfirma treffe. Natürlich haben wir uns in der Gemeinschaftsküche verabredet – gleich soll es in unserem Gespräch ums Essen gehen. „Greif zu“, sagt der hochgewachsene Mann und zeigt auf eine Schüssel voller rot gestreifter Äpfel. „Die sind von unserem eigenen Baum“. Das scharfe „S“, mit dem er „sind“ ausspricht, verrät seine schwäbische Herkunft. Doch Waiblingen, jene Pforte zu den Weinbergen und Streuobstwiesen des Remstals bei Stuttgart,  liegt schon lange hinter dem Filmemacher. Er ist Südstadter, die Äpfel sind Rheinland-Gewächse, und Thurn gilt, seitdem er 2011 den aufsehenerregenden Dokumentarfilm „Taste the Waste“ über Lebensmittelvernichtung ins Kino brachte, als Vorkämpfer gegen die Wegwerfgesellschaft. Ich beiße in einen Apfel.

Meine Südstadt: Für meine Mutter, Kriegsgeneration, war das Wegwerfen von Lebensmitteln nicht denkbar. Als Teeanger fand ich das unerträglich – warum soll man nicht auch mal einen runzligen Apfel in den Müll schmeißen? Sind wir nicht angekommen im Wohlstand, wenn wir das tun können?
Valentin Thurn: Mich hat das „Du darfst nichts wegwerfen“ früher auch genervt. Aber das Wegwerfen heute hat eine riesige Dimension. Ich kam durch Zufall darauf, als ich an einer Reportage über Mülltaucher arbeitete.

Das sind die Leute, die ihre Lebensmittel ausschließlich aus dem Müll holen.
Mülltaucher leben in der ständigen Angst vor Entdeckung – Lebensmittel aus dem Müll zu holen, ist gesetzlich nicht erlaubt. Es stinkt. Das ist ein grenzwertiger Lebensstil. Bei der Arbeit zu dieser Reportage merkte ich: Was da weggeworfen wird an eigentlich noch Essbarem sind gigantische Mengen. Ich wollte wissen: Warum tun Unternehmen und Menschen das?
Als ich nachfragte, merkte ich: keine Behörde, keine Uni, nicht mal Greenpeace wussten von dieser Problematik. Im Ausland war man da schon bedeutend weiter. Ich selbst hatte das Thema Essenverschwendung ausgeblendet wie der Rest der Gesellschaft auch. Die Zeit war also reif dafür.

Wo sind die größten Wegwerfer? Sind es die Supermärkte?
Alle, von der Landwirtschaft bis zum Verbraucher, sind beteiligt. Inzwischen hat die Bundesregierung Forschungen in Auftrag gegeben: Bei uns, den Konsumenten, wandert jede 5. Einkaufstüte, 20 Prozent der Lebensmittel, in die Tonne.

Wie kommt das? Sind die Menschen zu vergesslich, zu gestresst?
Der Stress spielt eine Rolle. Noch wichtiger ist die Tatsache, dass Essen einfach sehr billig ist. Man kauft einmal die Woche ein, der Kühlschrank ist so vollgepackt, dass man am Ende nicht sehr sieht, was hinten ist – und dann schmeißt man das Abgelaufene einfach weg. Pro Person macht das 350 Euro im Jahr aus – da könnte man sich was Schönes leisten. Aber es tut nicht wirklich weh.

Der Gesellschaft insgesamt allerdings tut es schon weh, wenn 15 Millionen Tonnen entlang der gesamten Lebensmittelkette weggeworfen werden. Es sind Lebensmittel, die unter hohem Energieaufwand erzeugt wurden. Zum Beispiel in der Landwirtschaft. Der Diesel für den Traktor ist noch das geringste – es ist eher der Dünger, der ausgebracht wird. Da entweicht Lachgas in die Atmosphäre, ein Klimagas, das 200 Mal so potent ist wie CO2. Alles, was die moderne Landwirtschaft so braucht, oder angeblich braucht, belastet die Umwelt und trifft Menschen woanders mehr als uns hier: in anderen Teilen der Welt nämlich, wo die Klimaerwärmung härter zuschlägt als bei uns.

Oder in Form von Armut: Wenn es Preisschwankungen an der Weltbörse gibt und die Lebensmittelpreise steigen, weil ein Teil unseres Essen in der Tonne landet, dann trifft es die Leute in Asien oder Afrika, die über 50 Prozent ihres Einkommens an Essen ausgeben müssen. Uns tut ein Preisausschlag an der Börse nicht weh – dann wird halt ein Brötchen mal zwei Cent teurer. Den Leuten dort tut er sehr weh.

Wer ist der typische Wegwerfer, der seine abgelaufenen Lebensmittel, sein ungewünschtes Joghurt in den Müll wirft?
Es geht quer durch alle Schichten und alle Einkommensklassen. Zehn Prozent des Restmülls sind essbare Lebensmittel – Verpackungen, die angerissen oder kurz vor oder nach dem Minderhaltbarkeitsdatum sind. Es gibt dabei ein Stadt-Land-Gefälle: Auf dem Land wird weniger weggeworfen als in der Stadt, und Jüngere werfen mehr weg als Ältere. Meine Erklärung ist, dass es sich hier nicht nur um das Geld dreht und um einen Verfall der Esskultur – viele können nicht mehr selbst kochen. Es gibt noch etwas Tieferes, und das ist unsere Entfernung von der Landwirtschaft. Wir wissen nicht mehr, wie unsere Lebensmittel erzeugt werden. Wenn man auf de Land aufwächst, dann sieht man täglich Gedeih und Verderb, dann weiß man, was noch gut ist und was schlecht ist.

Alles ist zellophanverpackt – was bleibt uns, als aufs Haltbarkeitsdatum zu vertrauen?
Oder auch auf das Aussehen: Wenn wir Nahrungsmittel pur nach dem Aussehen beurteilen und nicht nach dem Geschmack, dann ist das Unsicherheit. Wenn wir sicher wären, würden wir nach dem Geschmack gehen – wir wollen ja alle gut essen. Die grünen, unreifen Trauben werden von den meisten Kunden bevorzugt, obwohl die gelben, die bereits reifen, klar besser schmecken.

Wie groß ist die Verschwendung der Supermärkte? Schmeißen sie viele Waren auf den Müll?
Es liegt in unserer Wahl, auch das mitzubestimmen. Wenn der Handel eine ganz große Rolle hat, dann nicht so sehr, weil er selbst große Mengen Lebensmittel wegwirft, sondern weil er die Landwirtschaft zum Wegwerfen zwingt, indem er nur das gut aussehende Gemüse abnimmt. Zu dicke Kartoffeln werden aussortiert und weggeworfen.

 

Nun hast du einen Verein mitgegründet, der eine Foodsharing-Webapplikation unters Volk bringen will – die logische Konsequenz aus deinem Film. Essen soll geteilt bzw. abgegeben werden: Bevor ich meinen Kühlschrankinhalt in den Müll befördere, gebe ich ihn lieber Anderen in meiner direkten Umgebung. Das ist ein schwieriger Schritt: Das Wegwerfen, das drei Sekunden dauert, einzutauschen gegen: Ich gehe ins Internet, logge mich ein, hinterlasse Namen, Adresse, Telefon etc. in der Hoffnung, dass sich jemand meldet. Kann das funktionieren?
Wir wollen es so einfach wie möglich machen. Keiner muss seine Nummer hinterlassen. Er bietet einfach im System etwas an – sagen wir einen Essenskorb mit bestimmten Inhalt. Diejenigen, die ihn haben wollen, schreiben eine Antwort, bewerben sich, damit er keine fünf Anrufe entgegen nehmen muss – das macht er nur, wenn er will.

Klar, es ist ein bisschen Aufwand. Aber ich denke schon, dass es gerade in der Großstadt eine Bereitschaft, aber auch eine Hemmschwelle gibt. Man kennt vielleicht den Nachbarn, aber ihm altes Essen anzubieten, geht vielen zu weit. In einer Community dagegen weiß man: Hier denken die Leute ähnlich, da kann es klappen.
Es geht nicht nur darum, diese zwei Liter Milch und das Kilo Kartoffeln zu retten. Es geht auch um einen Bewusstseinswandel: Dass diese Lebensmittel einen ideellen Wert haben, dass man sie nicht mehr wegschmeißen will.

Wer soll wem Essen anbieten auf dieser Plattform?
Es gibt Bauern, die mitmachen, und eine Supermarktkette. Die Supermärkte können über die Plattform mit Organisationen und Großabnehmern wie den Tafeln in Verbindung treten. Das eigentlich Ziel ist jedoch das Foodsharing von Privat zu Privat: Ich hab am Tag vor dem Urlaub den Kühlschrank noch voll. Oder nach einer Party Salate übrig. Oder übervolle Apfelbäume so wie ich gerade – und ich kann kein Apple Crumble und kein Apfelmus mehr sehen und will das Obst loswerden. Statt diese Lebensmittel wegzuwerfen, schenke ich sie jemand anderem. Wir lassen dabei kein Fleisch, keinen Fisch und auch nicht Gerichte mit rohen Eiern zu.

Kann man schon mitmachen?
Wir starten gerade eine Testphase mit einer Probegruppe  – das sind die rund 1000 Leute deutschlandweit, die uns via Facebook unterstützen. Zunächst läuft das Ganze internetbasiert, in einiger Zeit soll es auch als Handy-App zur Verfügung stehen. Wenn wir alle Fehler ausgebügelt und juristische und lebensmittelrechtliche Frage geklärt haben, wird es an drei bis vier Orten in Deutschland einen großen Testlauf geben. Köln soll auch dabei sein, wir haben aber noch nicht entschieden, welcher Stadtteil.

So etwas kann nur sehr lokal funktionieren.
Angebot und Nachfrage müssen quasi im selben Block sein. Keiner fährt für zwei Salatköpfe von der Südstadt nach Kalk. Ideal wäre es, wenn ein halbes bis ein Prozent der jeweiligen Bevölkerung mitmacht.

Was ist das Ziel – dass bald keiner mehr etwas wegwirft?
Auf Null-Wegwerfen wird man es nie schaffen – das Ziel, was alle für denkbar halten, ist: Wir gehen auf die Hälfte runter. Da müssen allerdings alle mitziehen: Die Landwirtschaft, die Industrie, der Handel und der Verbraucher. Beispiel Handel: In England gibt es mittlerweile keine große Supermarktkette mehr, die nicht ein „Value Range“-Regal hätte. Dort werden Äpfel mit einem kleine Schorffleck und Karotten mit drei „Beinen“, also drei Wurzeln, für ein bisschen billiger angeboten. In der Krise ist dieses Regal sehr beliebt geworden. Ich warte darauf, dass das auch in Deutschland anfängt.

Was hat sich bislang schon bewegt seit deinem Film? Bemerkst du eine Bewusstseinsänderung?
Viele Leute fragen sich, wo kommt mein Essen her und fangen an, nach Qualität zu kaufen. Und das hat auch was damit zu tun, dass Essen wieder eine Hörer Wertigkeit hat. Zwar hat ein Gefährt auch immer noch einen hohen Status, aber es ist für viele auch wichtig zu zeigen: Ich weiß woher mein Essen kommt. Ich bin nicht tumb. Das heißt nicht, dass man nur Biostandard kauft – man geht auch zum Metzger, der direkt aus dem Umland sein Fleisch bezieht. Da ist eindeutig ein Trend da, und auch der Handel reagiert zunehmend drauf. Im Supermarkt ist das Thema Regionale Herstellung zwar noch eine Mogelpackung  – dazu zählt dann in Köln gerne auch mal ganz NRW. Aber der Druck der Konsumenten wirkt.

Weitere Infos:
Taste The Waste – Homepage zum Dokumentarfilm mit den aktuellen Kinoterminen
Foodsharing.de – Crowdfunding- und Infoseite zur Foodsharing-App
Foodsharing-Gruppe auf Facebook
 

Text: Doro Hohengarten

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