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Bildung & Erziehung Gesellschaft Neuigkeiten

Austauschhafen – Experten wie du und ich

Mittwoch, 28. März 2012 | Text: Kathrin Rindfleisch | Bild: Tamara Soliz

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Gesellschaftspessimisten aufgepasst! Noch ist nicht alles verloren! Weder Hopfen, noch Malz! Denn in diesem Moloch, den wir Leben nennen, in dem soziale Kälte herrscht, wohin man auch schaut. In dem eine zunehmende Individualisierung eine Gesellschaft aus Egoisten hervorgebracht hat, die ein Leben in völliger Anonymität fristet, in diesem Leben gibt es sie noch, die die Interesse haben. Interesse an ihren Mitmenschen, daran, warum sie etwas und was sie wissen.

Die Idee
Nachdenklich stimmt es die fünf Freunde Christian Wenzel, Elise Scheibler, Florian Egermann, Hannes Wöhrle und Thorsten Merl, als sie feststellen, dass sie wunderbar miteinander feiern und unterhaltsame Abende vor der Playstation verbringen können. Was sie sonst so umtreibt, was sie eigentlich ganz genau beruflich machen (wenn sie sich gerade nicht über den Kollegen oder Chef aufregen) und ob sie in einer Sache besonders gut sind, das wissen sie eigentlich gar nicht. Die zentrale Frage, die sich den Fünfen stellt, lautet also: „Wie leben wir?“ Die vielschichtigen, interessanten und wissenswerten Antworten sind von diesem Moment an Motivation zu einem gemeinsamen Projekt, dem Austauschhafen.

 

Inspiriert von der Trade School in New York, bei der Menschen ihr Wissen gegen etwas eintauschen können, das sie brauchen, setzen sie im Frühjahr 2012 ihr Vorhaben um. Die Idee, das Wissen Einzelner, das oft nur eine Handbreit entfernt ist, zu teilen. Die Umsetzung: 20 Interessierte, 2 Referenten, die an ihrem Wissen teilhaben lassen und die Aufforderung zum regen Austausch. Der Ort ist ungewöhnlich – mal privat, mal öffentlich und jedes Mal ein anderer. Dabei kommt das Projekt, im Gegensatz zu seinem New Yorker Vorbild, komplett ohne Geld oder anderen materiellen Gegenwert aus, Wissen als frei zugängliche Quelle als Grundgedanke des Austauschhafens.

Austausch in der Südstadt
Der erste Südstadt-Austauschhafen findet im „Atelier im Hof“ auf der Eifelstraße statt. Offenes Interesse schlägt Tamara Soliz, Mitbegründerin von „Meine Südstadt“, und mir entgegen, als wir den loftartigen Atelierraum betreten. Etwa zwanzig Mittdreißiger stehen locker beisammen, unterhalten sich, heißen willkommen. Einige haben eine Flasche Bier in der Hand, andere trinken Wasser. Auf einer Theke liegen Knabbersachen und die von Tamara mitgebrachten Weingummis bereichern die Snackecke. Ich fühle mich ein bisschen wie auf einer Party, nur dass die Leute gar keine Ambition haben, cool und distanziert zu wirken. Dafür sind alle viel zu interessiert auf einander, ist die Frage nach dem, wie wir leben keine leere Politikerfloskel, sondern wirkliches Interesse am Mitmenschen. So haben Tamara und ich, ehe wir uns versehen, auch gleich eine Einladung, einmal über unser Internetportal zu berichten und interessierten Zuhörern Rede und Antwort zu stehen. Spontan stimmen wir beide zu und starten so mit dem Gefühl in den Abend, dass jeder etwas Interessantes macht und mit seinem Wissen darüber seine Mitmenschen bereichert.

Der Sportler, der in Pfeffer macht
Und dieses Gefühl bestätigt sich dann auch ziemlich schnell auf unterhaltsame Weise. Das aufgeregte Gemurmel und Gequatsche verebbt, das Licht wird gedimmt und ein sympathischer Lockenkopf stellt sich vor: „Hallo! Ich bin Martin und verkaufe Pfeffer.“ Unweigerlich lachen muss man, verzieht er bei dem Wort „Pfeffer“ doch selber so ungläubig das Gesicht bei der Vorstellung, dass Leute für Pfeffer wirklich Geld ausgeben. Und genau das bringt er dann in der darauf  folgenden Stunde auch rüber, als er seine Geschichte erzählt. Wie er mit zwei Freunden, genau wie er Absolventen der Sporthochschule Köln, zum Pfeffer kam. Von der ersten fixen Idee, über eine gemeinsame Reise nach Kambodscha, bis hin zum eigenen Pfefferladen in Ehrenfeld. Und das macht er so herrlich uneitel, so erfrischend unprofessionell und sympathisch naiv, man möchte ihm noch stundenlang zuhören und ihm, ganz aufrichtig, beste Geschäfte wünschen. Und die Prognosen stehen nicht schlecht, denn die drei Jungs haben sich nicht irgendeinen Pfeffer ausgesucht. Sie verkaufen Kampot-Pfeffer, wie wir erfahren, den „Champagner unter den Pfeffersorten“. Dass das kein Marketing-Gag ist, liegt dabei wie eine Gewissheit im Raum, Martin erzählt es wie ein Junge, der beim Buddeln rein zufällig auf weißen Trüffel stößt. Dass er den Besten gefunden hat, steht dabei außer Frage – das Glück allein war ihm hold.

?Dass sie besten Pfeffer im Gepäck haben, als sie aus Kambodscha zurückkommen, bescheinigen ihnen dann auch Sterneköche, denen sie den Pfeffer zur Prüfung vorlegen. Ein professioneller Markenauftritt, den sie mit Hilfe eines befreundeten Grafikers und Kölner Druckereien, die allesamt, angetan von der Idee und den drei Jungs, in Vorleistung gehen und Bezahlung bei Erfolg vereinbaren, realisieren, verschafft einen ersten Großauftrag bei einem Versandhandel für hochwertige Neuheuten im Bereich Lifestyle. Und auch die Geschichte, wie der Kampot Pfeffer mit Ehrenfeld-Connection zum hochwertigen Kundenpräsent für Mercedeskäufer wurde und damit der obligatorischen Flasche Wein den Rang ablief, ist eine, die diesen Abend noch lange in mir nachwirken lässt: Martins Freund Sebastian, der mit seinem klapprigen Drahtesel und in Studi-Outfit bei Mercedes-Benz in Widdersdorf vorfährt, um Firmenwagen gegen Pfeffer einzutauschen. Und siehe da, die Welt auch hier nicht so schlecht, wie gedacht: nicht nur ’nen Mercedes gibt es, um bei zukünftigen Pfefferkunden repräsentativ vorzufahren. Der Marketingchef von Mercedes ist so begeistert vom Pfeffer samt Aufmachung, dass er gleich ordert. Pfeffer als originelles und hochwertiges Kundenpräsent. Da braucht keiner „Chacka-Chacka“ auszurufen, die Energie im Raum ist eindeutig: man kann alles schaffen, man muss es nur tun!

Vom Luxusgut zur verbotenen Sprache
…und darüber berichten, denn: „Wenn der das schafft, dann schaff‘ ich das auch!“ Diese Motivation kennt man nur zu gut, wobei in diesem Fall der Pfeffer exemplarisch steht für ein Projekt, hinter dem man mit voller Überzeugung steht. Doch der Austauschhafen versteht sich nicht als einer Art Motivationscamp für angehende Firmengründer. Das zumindest wird spätestens bei der zweiten „Expertin“ des Abends klar. DieLehrerin Johanna arbeitet an einer Kölner Schule für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche und gibt der Runde an diesem Abend eine Einführung in die Welt der Gehörlosen. Vom Luxusgut Pfeffer fast nahtlos in die Welt der Stille. Gebärdensprache, Gehörlosenkultur, Eltern, die nicht mit ihren Kindern kommunizieren können und die erschreckend junge Geschichte der Gebärdensprache in Deutschland – waren es in der ersten Stunde ein paar verhaltene Fragen am Schluss der Pfeffergeschichte, sie war eben in erster Linie unterhaltsam, packt dieses Thema die Runde gleich ganz anders. Großes Interesse an dieser fremden Welt, in der die Kinder, die von Geburt an Gebärdensprache lernen, als Muttersprachler bezeichnet werden und mit denen Johanna, wie sie erzählt, nicht mithalten kann. Zu spannend ist die Vorstellung einer Sprache ohne Worte, und so gibt Johanna bereitwillig und informativ Auskunft. Über das Fehlen von Ironie unter Gehörlosen und ihre sehr direkte Art, die sie ebenfalls ihrer Sprache zu verdanken haben: Füllwörter zum Beispiel gibt es nicht, und da die Gebärden zeitaufwendig sind, beschränkt man sich auf das Wesentliche.?

Johanna, die 2003 der erste Studiengang mit Gebärdensprachkursen war, berichtet aber auch von den kritischen Gesichtspunkten ihres Berufstandes. Die Tatsache, dass an Schulen in Deutschland das Lernen der Gebärdensprache bis zum Jahre 2001 verboten war und Gehörlose gezwungen wurden, vor dem Spiegel von den Lippen abzulesen, lässt alle kurz schlucken. Und auch Johanna merkt man in dieser Stunde an, dass sie hin und her gerissen ist, von einem Job, der spannend ist und  Menschen hilft, der aber in einem System stattfindet, dass in vielen Punkten dieser Arbeit nicht gerecht wird.

 

Die fünf Austauschafen-Grunder: Christian Wenzel, Elise Scheibler, Florian Egermann, Hannes Wöhrle und Thorsten Merl.

Knapp drei Stunden sind am Ende vergangen, als dann auch die letzten interessierten Frager langsam müde, aber begeistert von der Art, das eigene Wissen zu teilen und so zu erfahren, wie die Mitmenschen leben, genug wissen – zumindest für heute. Und auch, wenn man an diesem Abend nur von Zweien ausführlich erfahren hat, was sie umtreibt, ist einem die Runde nicht ganz fremd geblieben. Die Pause wurde von den Initiatoren zu einer kurzen Vorstellungsrunde aller genutzt. 20 weitere Experten auf ihrem jeweiligen Gebiet. Wäre ich nicht zu groggy für heute, das Insiderwissen der Trickfilmerin rechts neben mir, würde mich glatt noch interessieren…

 

Momentan stellen die fünf Freunde eine neue Reihe an Experten zusammen. Sobald die Termine bekannt sind, veröffentlichen wir sie in unserem Terminkalender. Da die Teilnehmerzahl in Anbetracht eines angemessenen Austauschrahmens auf 20 Personen begrenzt ist, erfährt man den genauen Ort erst nach Bestätigung der Anmeldung. Weitere Infos samt neuer Themen, sobald bekannt, findet man unter „Wie leben wir„, dem Blog zum Hafen.

Text: Kathrin Rindfleisch

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