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Südstadt

Das Schlummern der Lämmer

Montag, 13. Mai 2013 | Text: Christoph Hardt | Bild: Christoph Hardt

Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten

Was braucht der Mensch zum Glücklichsein? Der Job im Büro, eine möglichst große Flimmerkiste oder die E-Mail-Adresse scheiden aus: Mit all´dem hat Schäfergeselle Michael Prediger nichts am Hut. Das Leben als Hirte – für den 21-Jährigen ein gelebter Traum, der so sehr auf dem Boden der Realität stattfindet, dass keine Zeit bleibt für virtuellen Firlefanz. Was ihn antreibt: Die Sonne am Himmel und der Wind im Gesicht. Und das unendliche Blöken der Schafe, das wie ein Echo mal hierhin, mal dorthin klingt, und nie verstummt.

 

Mit der Wanderherde von Meister Werner Lupp, seines Zeichens Schäfer in neunter Generation, zieht Michael Prediger über das gesamte Jahr durch ganz Nordrhein-Westfalen – immer auf der Suche nach Grünflächen für die fast 400 Mutterschafe mit ihren Lämmern. Zwischen holländischer Grenze und Bergischem Land macht die Herde derzeit Station auf den Poller Wiesen.

 

Momentaufnahmen der Romantik entlohnen für 14-Stunden-Schichten

 

„Es sind diese Momente“, sagt Prediger, den Hut tief ins Gesicht gezogen, den Stab über die Schulter gelehnt, „die einem niemand mehr nimmt.“ Wenn früh am Morgen nur die Köpfe der Schafe aus dem Tiefnebel ragten, oder winters ihr Atem im fahlen Sonnenlicht dampfe. Unbeschreiblich. Von einem Hügel aus überblickt er die Tiere, die in den frühen Abendstunden am Rheinufer für die Nacht eingezäunt werden. Wolle so weit das Auge reicht. Und immer wieder Lämmer dazwischen, die vorwitzig über ihre Muttertiere klettern, um dann von einer Sekunde auf die andere in ein tiefes, friedliches Schlummern zu fallen.

 

Man muss nur in die Gesichter der Spaziergänger schauen, die hier über die Hügelkuppe schlendern, automatisch lächelnd innehalten, ihre Fotoapparate zücken und sich minutenlang nicht abwenden können von dem Naturschauspiel, um zu ahnen, welchs Gefühl Prediger direkt nach der Schule in die Hirten-Lehre gelockt hat. Freiheit. Das entschleunigte Leben ohne Rushhour, Anschlusszüge oder Meetings, in dem noch die Natur den Takt vorgibt und sonst niemand. „Man muss es in sich haben“, sagt er. Und lässt eine Pause, in die das Säuseln der Blätter lauter spricht als jedes Wort.

 

Doch was auf den Laien allein wie romantisches Grasen-Lassen wirken mag, ist in Wirklichkeit auch ein hartes Geschäft, das dem Schäfer Ausdauer, Fachwissen und Leidenschaft abverlangt: „Neben einem guten Draht zu Tieren muss man eine hohe Strapazierfähigkeit mitbringen“, erklärt Prediger. Abhärtung gegen die Witterung und viel, viel Geduld sind unverzichtbar: Der Tag beginnt spätestens um sieben Uhr, Feierabend ist erst, wenn die Tiere versorgt sind. Bei jedem Wetter. 365 Tage im Jahr. Besonders in der Lammzeit sind 14-Stunden-Schichten üblich. Urlaub kennt man nicht. Es wird klar: Schäfer zu sein ist kein Schönwetterjob, es ist eine Lebensaufgabe.

 

Wolle, so weit das Auge reicht – Die Herde von Schäfer Lupp auf den Poller Rheinwiesen

 

Subventionspolitik der EU macht Weideland rar

 

„Die Huren und die Hirten“, scherzt Prediger, „das sind die ältesten Berufe der Welt.“ Welcher jetzt zuerst da war? So ganz ist es nicht geklärt. Doch auch, wenn sich die Schäfer Freiheit und Unabhängigkeit über die Jahrtausende bewahren konnten – viel ist von der einstigen Idylle nicht mehr geblieben: Der Markt, dieses gesichtslose Etwas in fernen Wolkenkratzern, macht den Hirten das Leben schwer. Immer weiter wird an den Stellschrauben für Wolle und Fleisch gedreht. Immer geringer fallen die Verkaufserlöse aus. Und auch die Weideflächen sind in Gefahr: Biogasanlagen treiben die Pachtpreise in schwindelerregende Höhen. Teilweise schon auf 400 Euro für einen einzigen Hektar. Für Schäfer unbezahlbar.

 

Geld wird von Schäfern in erster Linie durch Verkauf und Schlachtung von Lämmern verdient: Alle männlichen Lämmer erwischt es, von den weiblichen werden nur 10 Prozent zur Nachzucht gehalten. In der ganzen Herde sind gerade mal zwei Böcke. Schon die Schur Mitte Mai ist dabei streng genommen ein Minusgeschäft. 2,50 Euro rechnen die Scherkolonnen pro Schaf. Vier Kilo Wolle fallen dabei ab. Verkaufswert: Jeweils etwa 50 Cent. Das kann sich nicht rechnen. Und so ist man dankbar für jedes abgeerntete Feld eines Bauern, auf dem man mit den Tieren Asyl findet, zieht umher auf der Suche nach den letzten Fleckchen saftigen Grüns – manchmal bis zu 20 Kilometer an einem Tag. An Autobahnüberführungen wird übernachtet, oder in der Wahner Heide. Aber immer seltener dort, wo Landwirtschaft betrieben wird.

 

Denn die Flächen zur Bewirtschaftung mit Schafen werden durch

EU-Subventionsregelungen systematisch zurückgedrängt: Seit drei Jahren erhalten Grundbesitzer, die ihre Flächen brach liegen lassen, nur noch dann die Grünlandprämie, wenn keine Schafe auf ihnen weiden. Dabei gelten die genügsamen Wiederkäuer eigentlich als die besten „Mäh“-Drescher: „Wir haben in der Herde sowohl Bendheimer Landschafe als auch Moorschnucken“, so Prediger. „Eine Mischung, die sich besonders zur Landschaftspflege eignet.“ Um Disteln wird herum geknabbert, Wurzeln bleiben unangetastet – so exakt, wie es Maschinen kaum leisten können.

 

Schaum vorm Mund: Endstation einer Entfremdung zwischen Mensch und Natur

 

Doch noch mehr Schattenseiten birgt das Schäferleben: Die Pestizide der chemischen Industrie, die seit langem in Verdacht stehen, auch für das Bienensterben verantwortlich zu sein, haben mitunter dramatische Folgen. „Die Tiere werden schlagartig krank, bekommen keine Luft mehr, haben Schaum vorm Mund“, sagt Prediger. Innerhalb weniger Stunden hätten einzelne Schafe schon tot in der Herde gelegen. Deshalb gehen sie längst nicht mehr auf gespritzte Weiden, die man schon an einer veränderten Farbe des Grases erkenne. Das jüngst von der EU ausgesprochene Verbot für einen Teil dieser Schädlingsgifte – ein schwacher Trost.

 

Ein Hirt muss seine Schafe kennen – Jedes Schaf wird täglich auf Wunden kontrolliert

 

Überhaupt – bestätigt Schäfer Lupp – sei eine Entfremdung zwischen Mensch und Natur festzustellen: „Früher waren weidende Kühe ganz normal.“ Heute hingegen sehe eine Milchkuh mitunter kein Licht mehr. Der Mensch befinde sich also in immer stärkerem Widerspruch zur Natur, von und mit der er zuvor Jahrtausende lang gelebt habe. Das zeige sich schon, wenn man mit den Schafen heute Ortsgebiete passieren müsse: „Sowas ist inzwischen immer ein Akt“, so Lupp. Die Menschen seien den Anblick von Schafen einfach nicht mehr gewohnt, fühlten sich auf dem Weg mit dem Auto an die Tiefkühltheken im Supermarkt durch die Herden belästigt.

 

Wenig Verständnis für die Schafe legen immer wieder auch Hundebesitzer an den Tag. Denn während in Brandenburg Anfang des Jahres insgesamt 300 Schafe von Wölfen gerissen wurden, ist in Köln Rex statt Isegrimm die größte Bedrohung für die Herden: Im Februar tötete ein einzelner freilaufender Hund 30 Tiere einer Schäferin in Niehl. Weitere mussten eingeschläfert werden, weil sie sich in Panik zu schwer verletzten. Da Schafe nicht nur Fluchttiere, sondern auch „still Leidende“ sind, kontrollieren Lupp und Prediger sie einmal pro Tag auf Verletzungen. „Ein Schäfer muss jedes seiner Schafe einmal pro Tag gesehen haben“, sagt Prediger. „Mindestens.“

 

Schäfchen zählen von früh bis spät – Feierabend ist erst, wenn die Tiere versorgt sind
 

Tierpfleger, Hundetrainer, Hebammen

 

Die einzigen Hunde, die ein Schäfer innerhalb des Elektrozauns sehen will, sind die eigenen. An diesem Tag ist es „Fee“. Eine Altdeutsche Tigerin mit dreijähriger Ausbildung . So erfahren, dass sie die Herde alleine sicher zum nächsten Weideplatz leiten kann. Wie der verlängerte Arm des Schäfers führt sie versprengte Tiere wieder heran, hält die Herde im Fluss. Schätzt man den Wert eines Schafs heute auf 100 Euro, gelten gut ausgebildete Hirtenhunde hingegen als unverkäuflich. „Einen 1a-Hund würde ein Schäfer niemals freiwillig hergeben“, meint Prediger.

 

Schäfer sind aber nicht nur Hundetrainer, Tierpfleger und Hirte in einer Person, auch als Hebammen müssen sie eingreifen, gerade bei den „Erstlingen“ – also Schafen, die zum ersten Mal „ablammen“. Oft geschieht dies in Nachtschichten, im Idealfall im Stall. Welche Lämmer als nächstes auf die Welt kommen, ist kaum abzusehen: Erst wenige Stunden vor der Geburt schwillt der Euter der Muttertiere. Nach sechs bis acht Wochen werden die Lämmer dann abgesetzt, gehen nach weiteren Wochen mit speziellem Kraftfutter zum Schlachter. Hier endet auch der Weg aller Tiere, deren „Leistung“ abfällt, das heißt, deren Zähne Fehlstellen aufweisen, die mehr Futter brauchen, um ihr Gewicht zu halten, oder keinen Nachwuchs mehr bekommen können. In der Regel wird deshalb kein Schaf in der Herde älter als zehn Jahre.

 

Trotzdem ist das Schafe-Halten weit entfernt von der mit antibiotikumsbelasteten Mastzucht, wie sie in der Geflügelmast mittlerweile Standard ist. Oder von der Turbobefruchtung über Samenbanken, wie sie in der DDR praktiziert wurde. Das Bild vom glücklichen Tier, das über eine grüne Wiese springt und bis zum Tage, an dem der Henker vor ihm steht, ein artgerechtes Leben geführt hat – im Schäferberuf ist es noch Realität. Ein Bio-Siegel ist nicht nötig. Und die Veterinärämter kontrollieren streng auf Krankheiten. Gleichwohl ist Nachwuchs-Schäfer Prediger einer der letzten seiner Art. Im gesamten Kreis Neuss ist die Wanderschafherde von Meister Lupp mittlerweile allein auf weiter Flur. Trotz Fördergelder der EU und immer größerer Anerkennung bei der Landschaftspflege. Die verbliebenen Schäfereien sind heute meist als Familienbetrieb geführt, der Quereinstieg entsprechend schwierig. Was die Zukunft bringt? „Eine eigene Schafherde“, träumt Prediger. Nur eins weiß er sicher: Die Büro-Welt, die kriegt ihn nicht, er ist doch nicht belämmert.

 

Text: Christoph Hardt

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