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Südkids

Eine Busreise nach Auschwitz

Freitag, 4. November 2011 | Text: Wassily Nemitz | Bild: Wassily Nemitz

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Unser polnischer Busfahrer zeigt, was in seinem Setra-Reisebus steckt. Er hat das Radio aufgedreht, ein Musiksender heizt ihn und die Stimmung im Bus an. Seine rasante Fahrt über Bodenwellen in der Landstraße weckt das Gefühl, auf einer Achterbahn unterwegs zu sein, jedes Mal ertönt ein „Uhhhh“ aus den Mündern der Reisenden. Hinter einer Kurve erfassen wir beinahe eine ältere Dame in roter Jacke auf einem Rad, den Busfahrer kann das nicht schocken. Er fährt weiter, weiter in Richtung O?wi?cim.
Vor 70 Jahren fuhren schon einmal Menschen in diese Richtung – mehr als 1,1 Millionen. Im Unterschied zu uns fuhren die meisten von ihnen nicht wieder zurück.

O?wi?cim – das ist der polnische Name für Auschwitz, dem Synonym für eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Die Stimmung auf der Hinfahrt will nicht so recht passen zu dem, was uns wohl erwarten wird. Die meisten von uns, die Jahrgangsstufe 13 auf ihrer „Studienfahrt“ nach Kraków, waren noch nie in einem ehemaligen Konzentrationslager – umso vielfältiger sind die Erwartungen an den Besuch in Auschwitz.
Unter den lautstarken Klängen von Bon Jovi mit „Living on a prayer“ durchfahren wir zunächst den Ort O?wi?cim, eine typische Kleinstadt mit Gewerbegebieten und kleiner Altstadt, und fahren dann auf dem Parkplatz des „Museum Auschwitz“ vor. Wir steigen aus, der Busfahrer reiht sein Gefährt in eine Reihe von etwa 40 weiteren Bussen ein – und wir warten auf unseren „Guide“ – der Begriff „Führer“, wäre wohl an kaum einem anderen Ort unpassender.
Wir werden ausgestattet mit Kopfhörern und der Guide begrüßt uns vor dem Eingangsgebäude: Ein Pole, vielleicht Ende dreißig, mit Baseball-Kappe und grauer Trekkingjacke. Er spricht gutes Deutsch und erzählt uns zuerst von seiner Familie. Er lebt mit seiner Frau und einem Kind in der Nähe des ehemaligen Lagers. Regelmäßig führt er Gruppen durch das ehemalige Vernichtungslager – in verschieden Sprachen.
Mit monotoner Stimme berichtet er von den Gräueltaten der Nazis zwischen 1940 und 1945 und führt uns direkt in eine der wenigen erhalten gebliebenen Gaskammern.

Foto: Lavinia Przyborowski

 

Spätestens hier ist der Moment gekommen, in dem ich mir das wahre Ausmaß des Verbrechens nochmals in Erinnerung rufe. All das, was zwar langwierig und mehrfach im Unterricht besprochen wurde und auch sonst in der Gesellschaft präsent ist, bekommt hier eine ganz neue Bedeutung. An dem Ort zu stehen, wo Hunderttausende Menschen im Glauben an eine Dusche vergast wurden, ist derart negativ beeindruckend, das die Tränen ganz nah sind. Einige meiner Mitschülerinnen fangen offen an zu weinen, werden getröstet von Mitschülerinnen und einer jungen Lehrerin, die selbst sehr nah am Wasser baut. Dazu die monotone Stimme, die erläutert, dass zwecks „Kapazitätserhöhung“ neuartige Öfen gebaut wurden und die Leichname mit Wagen in die Verbrennung geschoben wurden, um die „Effektivität“ zu erhöhen. Im Nebenraum sieht man die Öfen, vor dem geistigen Auge sehe ich meine eigenen Freunde und Verwandten darin verschwinden – nachdem ihnen noch Goldzähne ausgebrochen worden sind.
Gerade die sachliche Schilderung des Guides ohne jedwede Emotion führt mir den völligen Wahnsinn der Massenvernichtung vor Auge. Mit industrieller und wirtschaftlicher Denkart geprägtes Handeln – angewendet auf Menschen, Menschen, von denen jeder Einzelne eine Würde hat –  das ist an Grausamkeit und Skrupellosigkeit nicht mehr zu überbieten.

Wir gehen weiter. Laufen die ehemaligen Lagerstraßen entlang und besuchen Ausstellungen in Baracken auf dem Lagergelände. Ein Raum ist voller Haare, die den vorwiegend jüdischen Menschen vor ihrer Vernichtung abgeschnitten wurden, um an deutsche Unternehmen verkauft zu werden. Ein anderer Raum ist voll mit Koffern, versehen mit Namen und Adressen der Inhaftierten, die sie im Glauben an eine Rückkehr auf den Gepäckstücken vermerkt hatten.
Wir besuchen das ehemalige SS-Gefängnis im Lager, in dem Gefangene unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und gefoltert wurden. Im Gang des Hauses hängen hunderte Porträts von ehemaligen Gefangenen. Menschen, die meist nur wenige Tage oder Wochen vor ihrem Tod aufgenommen wurden, gezeichnet von den Verhältnissen im Lager, einige Frauen kaum noch als solche zu erkennen.

In einer ehemaligen Lagerstraße begegnen wir einer Gruppe aus Israel – die meisten jungen Teilnehmer haben sich Israel-Flaggen umgehangen und schießen grinsend Erinnerungsfotos. Später, in Birkenau (der Außenstelle des Lagers Auschwitz ein paar Kilometer entfernt) begegnen wir ihnen wieder. Die junge Lehrerin sagt, als wir zu dritt mit ihr eine alte Schlafbaracke besichtigen, dass sie nicht wisse, was sie davon halten solle. In der Tat – ich tue mich zwar schwer damit, es zu kritisieren. Dennoch habe ich doch ein komisches Gefühl bei dieser Art, mit der Geschichte umzugehen.
In Birkenau sehen wir die berüchtigte Rampe – an der SS-Leute die in Güterwagen ankommenden Menschen selektierten. Nach deren Urteil entschied sich, ob sie direkt in die Gaskammer gingen oder als Arbeitskräfte missbraucht wurden und anschließend mit etwas Glück überleben konnten. Das Tor zu Birkenau mit dem langen Gleis in das Lager hinein – als ich direkt daneben hergehe und mir klar mache, das die meisten das Tor nicht wieder in anderer Richtung passieren konnten, freue ich mich fast schon, dass ich es kann.

Vor dem ehemaligen Lager wartet schon unser rasanter Busfahrer mit seinem Setra. Wir steigen alle mit einem ganz anderen Gefühl ein, als wir ausgestiegen sind. Der Redebedarf ist groß. Einige Schüler sind sehr betroffen, andere äußern die Auffassung, dass sie persönlich nicht sonderlich angerührt seien, da das Erlebte seit 70 Jahren Geschichte ist.
Trotzdem – als Deutsche haben wir einfach eine Sonderrolle. Eine Sonderrolle, die wir in den nächsten Jahrzehnten sicher nicht wieder loswerden. Es steht fest, dass meine Generation keine Schuld an dem Geschehenen hat. Aber wir haben die Verantwortung, ernsthaft mit der Geschichte umzugehen und sicherzustellen, dass sich etwas derartiges nie wieder zutragen kann. Das ist einfacher gesagt als getan; einer meiner Mitschüler fand es offensichtlich lustig, sich auf dem Krakauer Marktplatz mit Hitlergruß und „Heil“ schreiend ablichten zu lassen. Das war vor unserem Besuch. Ob er es hinterher wieder getan hätte?

Wir fahren zurück, zwar ebenso rasant, aber ohne fröhliche Popmusik. Ich mache mir klar, dass alleine die Tatsache, dass wir mit einem polnischen Busfahrer in Frieden in einem Bus sitzen können, schon einiges Wert ist.

 

 

Wassily Nemitz ist Schüler der Kaiserin-Augusta-Schule und fuhr vor kurzem  im Rahmen seiner Abitursfahrt nach Auschwitz.
 
 

Text: Wassily Nemitz

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