Eine Stunde in Helmuts Welt
Montag, 11. März 2013 | Text: Nora Koldehoff | Bild: Tamara Soliz
Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten
Gibt es Stammplätze in der Südstadt? Für Helmut Gerdes ganz gewiss, denn an manchen Plätzen trifft man ihn öfter als an anderen. Im Bäckereicafé an der Darmstädter Straße zum Beispiel – mit Blick in Richtung Chlodwigplatz, aufmerksam beobachtend und interpretierend, was im Herzen seiner Südstadt passiert. Und immer ertönt ein freundlicher und lauter Gruß von jemandem, den er kennt oder der ihn kennt. Es gibt aber auch diese eine bestimmte Bank am Rheinufer, zu der Helmut regelmäßig geht, um abzuschalten. Er schaut dann auf seinen Rhein, mit dem er sich verbunden fühlt, und macht Pause für sich. Zum Alleinsein ist die Bank nicht unbedingt, denn auch hier kommt alle naselang jemand vorbei, der ihn grüßt oder den er auf einen kleinen Schwatz einlädt. Der 66-Jährige ist ein Kind der Südstadt, hier geboren und zum Teil aufgewachsen. Er ist einer der Menschen, die diesen Stadtteil mehr prägen als alle Kneipen, Läden und Gebäude.
Helmut Gerdes ist auf dem Bauspielplatz Friedenspark das Mädchen für alles. Als Hausmeister und Putzmann, sich selbst als ‚Kaczmarek‘ oder ‚Fußbodenkosmetikerin‘ bezeichnend, schaut der gelernte Glas- und Gebäudereiniger nach dem Rechten. Und wenn man den ‚Baui‘ für Feiern mietet, dann mietet man verpflichtend Helmuts Dienste mit dazu. Er packt mit an, macht zwischendurch sauber, dreht bei Partys eine Runde um das Gebäude, um die Lautstärke zu messen und hat immer einen Witz auf den Lippen. „Habt Ihr gehört, was mit dem vierzehnjährigen Mädchen aus Nippes passiert ist?“ Kopfschütteln, besorgte Gesichter. „Ist fünfzehn geworden.“ Helmut kichert.
Er ist schon länger hier, als jeder sonst. In den Remisen des Gebäudekomplexes ist eines der drei Gewölbe von Jugendlichen vor Jahrzehnten liebevoll als ‚Grotte‘ betitelt – sein Reich. Hier hat er seinen zweiten Wohnsitz – und das schon seit 37 Jahren, festangestellt seit elf Jahren, vorher als Honorarkraft. Als Helmut an den Baui kam, war der noch nicht der Baui. An der alten Fortanlage, erzählt er, war „der Herr Birkenstock von der BISA (Bürgerinitiative südliche Altstadt) Bäume am Pflanzen und mit den Kindern am Buddeln“. Schrittweise wurde das Gelände für die Nutzung als Bauspielplatz erobert, und Gerdes war trotz herber Rückschläge inklusive Brandstiftung und zeitweisem Umzug in die alte Uni mit dabei. Inzwischen wird die Kinder- und Jugendeinrichtung seit über dreißig Jahren von Sozialpädagogen und Erziehern betreut, getragen erst von der Stadt und dann von deren Jugendzentren Köln gGmbH, die auch Helmuts Arbeitgeber ist. Mit den meisten komme er gut aus, sagt Helmut Gerdes, Respekt und Wertschätzung sind ihm wichtig.
An den allermeisten Bauitagen kommt Helmut im Tagesbetrieb vorbei, obwohl seine Arbeitszeit eine andere ist, hält ein Schwätzchen und erzählt Dönekes. Zum Beispiel jenes, wie er Dieter Bohlen auf seinen Streifzügen durch die Stadt kurz mal vorgesungen haben will. Dann ruft er nach seinem unsichtbaren Hund, grüßt nicht vorhandene Leute, so dass sich der Gesprächspartner suchend umdreht, oder versucht sonst wie die Umstehenden zu verwirren – und amüsiert sich prächtig, wenn jemand darauf reinfällt. Die Kinder wissen, wie sie ihn und seine Scherze zu nehmen haben. Oft kommt eines von ihnen, wenn es Helmut sieht, auf ihn zugesprungen, beide veräppeln sich gegenseitig, und anschließend wird Helmut zu einer Runde Tischtennis oder Kicker herausgefordert.
Auch Eltern, Freunde und Mieter lädt er zum Beispiel mit Fotos, die er aus seiner Jackentasche zieht, fröhlich zum Plaudern ein und zeigt stolz: da ist er mit Guido Cantz zu sehen, eine Fotomontage zeigt ihn Tolle tragend mit Elvis, auf dem Bild mit dem Spruch Hier wache ich trägt er eine Brille aus Lakritzschnecken, dazu ein Punker-Toupet und falsche Vampirzähne aus Weingummi. Wann immer Helmut einen Menschen zum Lachen einladen kann, tut er dies und amüsiert sich selbst am meisten.
In seiner Grotte ist jeder willkommen. Und so ergab es sich mit der Zeit, dass manche Jugendliche, die am Abend, nach der offiziellen Schließung des Jugendzentrums, noch dort blieben – zum Kickern, Schwatzen, Grillen und Kartenspielen. Zeitweise gab es sogar einen eigenen Tischtennis- und einen Fußballverein unter Helmuts Regie. Regelmäßig im Sommer fuhr er mit einer meist sechsköpfigen Gruppe Jugendlicher in Urlaub – natürlich mit Einverständnis der Eltern, ehrenamtlich und selbst organisiert, am liebsten in den Süden, um Sonne zu tanken, so dass die Jugendlichen ihm den Spitznamen Kupferpläät gaben. Die letzten beiden Jahre fiel die Reise aus, aber für die nächste Fahrt hat Helmut bereits wieder zu sparen angefangen.
Einmal, erzählt er, habe man die Sommerfreizeit des Bauspielplatzes und seine zusammengelegt und sei gemeinsam nach Italien gefahren. Dort habe man einen Zug verpasst und im Nachhinein erfahren, dass auf eben jenen Zug ein terroristisches Attentat verübt worden sei. Kurz nach dem Aufbruch in Italien brach dann auch noch der Vulkan Ätna aus und der Campingplatz, auf dem man kürzlich erst logiert hatte, war mit Asche überzogen. Zweimal Glück gehabt…
Helmut hat eine bewegte Vergangenheit, seine Biographie klingt mehr als abenteuerlich. Die Mutter in Köln war alleinerziehend, und Helmut schwänzte, so oft es ging, die Schule. Deshalb kam er irgendwann in ein Kinderheim in Mayen in der Eifel. Dort büxte er aber bei jeder Gelegenheit aus, machte sich, wie Ostermann es schon besang, oft zo Foß nach Kölle auf. Es kam vor, dass der Fürsorger der Mutter beschied, Helmut sei wieder im Heim, aber tatsächlich saß er schon wieder unbemerkt in der Kölner Stube. Oder er schlüpfte im Übergangswohnheim am Grauen Stein bei Zigeunern unter, färbte sich die Haare schwarz und fuhr mit ihnen herum. Diese Kontakte pflegt Helmut bis heute, spricht ein wenig ihre Sprache und ist Teil ihrer Familie in Köln. Und Helmut erzählt grinsend, wie dort eine der Frauen dem Fürsorger, der ihn zurück ins Kinderheim bringen wollte, eine Pfanne über den Kopf zog, damit er erneut weglaufen konnte.
Als schwer erziehbar eingestuft, wurde er irgendwann in eine andere Fürsorgeeinrichtung in Helenenberg gesteckt. Dort sei es sehr streng zugegangen, er sei geschlagen und gedemütigt worden, erzählt Helmut Gerdes. Aber bekehrt habe man ihn dort, erzählt er. Er sei sogar Messdiener geworden: „Aber ich will ehrlich sein – nur wegen dem Wein.“ Auch die Wetten, wer das brennende Weihrauchgranulat am längsten in der Hand halten konnte, entschied Helmut oft zu seinen Gunsten, denn 50 Pfennig waren eben viel Geld. Auch von dort verschwand er aber irgendwann. Natürlich.
Inzwischen ist Helmut Gerdes längst sesshaft geworden, und seit vielen Jahren scheint ihn fast jeder in der Südstadt zu kennen. Wenn nicht vom Bauspielplatz, dann von seinem Drittwohnsitz im Café der Bäckerei Hütten. Oder von seinen Unternehmungen mit Chiara. Sie ist zwar nicht seine leibliche Enkelin, doch die Eltern des Mädchens mit den brünetten Locken gehörten vor Jahren zu den Jugendlichen, die tagein tagaus bei Helmut in der Grotte waren. Als Jahre später dann Chiara zur Welt kam, war klar, dass nur Helmut „der Oppa“ sein konnte und das ist er seither mit Leib und Seele. Chiaras Wort ist Gesetz. Wenn ein zufriedener Mieter im Bauspielplatz ihm einen Euro extra schenkt, werden meist sofort in „Hello-Kitty“-Artikel investiert. Und wenn vor dem Besuch des Opas noch ein ‚Wunderball‘ vom Büdchen besorgt werden muss – aber die mit Colageschmack, und zwar bitteschön auch einen für die Freundin, die gerade zu Besuch ist – dann macht er das natürlich: „Und dann spielen wir zusammen. Mensch-ärgere-dich-nicht oder Schach. Die pfuscht. Aber ich sach nix.“
Und natürlich wird Chiara auch mit dabei sein, wenn Helmut demnächst seine Grotte wieder öffnet. Im Winter ist es dort doch sehr klamm, und die einzig vorhandene Stromheizung kostet den Baui Geld, was er so nicht vergeuden will. Wenn es aber bald wieder wärmer wird, findet der traditionelle Grillabend im Freien vor seiner Grotte statt, am liebsten mit Musik von Elvis im Hintergrund. Und dann pendelt er wieder zwischen dem Jugendzentrum im Alten Fort am Friedenspark und seinem Refugium am hinteren Ende des Bauplatzes. Immer mittendrin, und wer eine Hand braucht, dem hilft er gern. Und wenn man ihn fragt, ob man ihm zu seiner Urlaubsbank auf dem Rückweg ein Kölsch mitbringen darf, sagte er nicht nein. „Aber nur eins. Ich muss noch fahren. Aufzug.“
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Kommentare
Ich danke euch für diesen wunderschönen Artikel über meinem Opa!