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Gesellschaft

„Es herrscht eine große Unsicherheit“

Mittwoch, 9. Dezember 2015 | Text: Jörg-Christian Schillmöller | Bild: Tamara Soliz

Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Acht Familien leben in der Flüchtlingsunterkunft an der Koblenzer Straße, insgesamt 52 Menschen. Martina Kastilan arbeitet für das Deutsche Rote Kreuz und ist die Leiterin der Unterkunft. Sie ist eine engagierte Frau und spricht mit viel Empathie über die Roma, Syrer und Türken, die hier wohnen. Martina Kastilan erlebt jeden Tag eine überbordende Hilfsbereitschaft der Kölner im Viertel und hat Stück für Stück ein eigenes Kultur- und Bildungsprogramm aufgebaut. Direkt auf dem Gelände. Und sie musste lernen: Nicht jedes Angebot ist wirklich nützlich und wird auch angenommen.

 

Fast eineinhalb Stunden spreche ich mit Martina Kastilan. Sie zieht ab und an einen Ordner aus dem Regal in ihrem kleinen Büro, in dem es nach Spekulatius riecht. Sie sagt von sich selbst, dass sie ein kölsches Mädchen sei, auch wenn sie in Herne geboren wurde. Sie hat einen langen Lebenslauf in der sozialen Arbeit hinter sich, ist von Beruf Sozialpädagogin und hat lange im Katholischen Jugendamt gearbeitet. Die Heimleitung an der Koblenzer Straße ist für sie ein Lebenstraum: Eigenständig arbeiten, sich voll entfalten. „Das ist das Richtige für mich“, sagt sie. Und schon sind wir mittendrin im Interview, das wir auch im Geiste des Internationalen Tages der Menschenrechte (Donnerstag, 10.12.) geführt haben.

 

Frau Kastilan, was genau ist Ihr Antrieb?

Mir ist es wichtig, eines nach außen zu zeigen: Dass alle Menschen gleichwertig sind. Die Herkunft ist kein Wert an sich, auch nicht der Geldbeutel. Ich bin katholisch sozialisiert, und die Nächstenliebe ist mir daher das höchste Gut. Ich will den Menschen Räume anbieten, in denen sie sich entfalten können. Denn es gibt viele Menschen, die Unterstützung brauchen.

 

Wer lebt hier in der Koblenzer Straße?

Wir haben zwei kleinere Familien aus der Türkei und aus Syrien. Die Syrer kamen aus Homs, die Mutter war dort Professorin, die Söhne studierten. Sie sind im Mai eingezogen. Und wir haben sechs Roma-Familien vom Westbalkan.

 

Westbalkan ist mir zu abstrakt.

Sie kommen aus Bosnien, aus Mazedonien, aus Serbien und aus dem Kosovo.

 

Was brauchen die Menschen? Und ich meine nicht etwa Kleidung.

Da muss ich unterscheiden. Die beiden Familien aus Syrien und der Türkei orientieren sich stark nach außen. Die Syrer haben viele Kontakte in die Südstadt, die erwachsenen Kinder sind schon richtige Südstadtjungs geworden. Bei den Roma-Familien ist das anders. Sie haben viele Kinder, und die größeren gehen auch in den Kindergarten und die Schule. Es gibt aber auch die Kinder unter drei Jahren. Die Rollenverteilung ist so, dass die Frauen sich um die Familie kümmern und manche noch zwei kleine Kinder daheim haben. Ihnen fällt es schwerer, sich aufzumachen ins Viertel. Sie versorgen die Kinder, sie putzen, sie kochen, das ist viel Arbeit. Ich erlebe da auch Überforderung.

 

Was bedeutet es den Menschen, hier zu leben?

Vor allem die Roma-Familien wohnen einfach gerne. Es ist gepflegt hier, überschaubar und ruhig. Sie erleben Geborgenheit. Viel mehr brauchen sie nicht.

 

Wie gehen die Menschen in der Südstadt damit um?

Es gibt Angebote in rauen Mengen. Ich führe jeden Tag Gespräche mit Leuten, die helfen wollen.

 

Sprich: Sie können sich kaum retten vor Hilfsbereitschaft.

Genau. Zum Glück habe ich eine ehrenamtliche Studentin. Helen kommt im Prinzip jeden Tag her und hilft mir, alles zu sichten und zu ordnen. Allerdings nur noch bis Weihnachten, denn sie geht nach Norwegen zum Studium.

 

Was haben die Angebote der Südstädter gebracht?
Die waren alle toll, aber sie kamen nicht an bei unseren Roma-Familien. Wir haben hier viele Kinder und Jugendliche. Und ich habe vor den Sommerferien das Programm in der Südstadt angepriesen, Pänzhausen zum Beispiel. Aber viele zögerten. Da gab es Angst und Scheu, sie trauten sich nicht.

 

 

Woher kommt das? (Bei der Antwort muss ich schlucken).

Diese Familien sind ruhelos, weil die Menschen kein Zuhause haben. In ihrer Heimat sind sie ausgestoßen und leben mehr oder weniger am Rande der Gesellschaft. Sie erzählen mir, wie sie dort ihre Baracken bauen, und sie verwenden auch das Wort ‚Baracke‘. Sie zimmern sich etwas aus Holz und Sperrmüll. Sie leben vor den Städten, auf Müllhalden. Sie profitieren nicht vom Gesundheitssystem, sie erhalten Sozialleistungen eher nach Willkür, sie gehen nicht regelmäßig zur Schule, und wenn, dann erleben sie dort auch Misshandlungen. Sie haben kaum eine Chance, später im Arbeitsleben anzukommen.

 

Wie sind Sie hier in Köln darauf eingegangen?

Wir haben das gespürt, dieses Bedürfnis nach Sicherheit. Also haben wir die Angebote dann einfach bei uns organisiert, in unserem Gemeinschaftsraum, hier auf dem Gelände.

 

Zum Beispiel?

Als erstes haben wir ein eigenes Ferienprogramm auf die Beine gestellt. Es kam ein gutes Dutzend Leute für die Planung, und nach zwei Stunden hatten wir ein Vier-Wochen-Programm stehen. Dann kamen noch die Dozenten der TH, das war dann die fünfte Woche.

 

Wie lief es?

Super. Traumhaft. Die Kinder fragen heute noch. Im Herbst haben wir das wiederholt. Und jetzt kennen sich die Familien untereinander. Sie besuchen sich, sie helfen sich.

 

Was gibt es sonst bei Ihnen für Angebote?

Also… (sie zählt auf): Wir bauen ein Ukulele-Orchester auf. Das ist immer dienstags, und es ist auch für Menschen aus ganz Köln, nicht nur für Flüchtlinge. Allerdings brauchen wir für das Orchester gerade viel mehr Flüchtlinge (sie lacht). Mittwochs haben wir eine Eltern-Kind-Gruppe, das läuft über den Kinderschutzbund, der ist ja quasi gegenüber. Dann gibt es Kunsttherapeuten, auch sie kommen einmal die Woche, und sie schauen, welche Persönlichkeit die Kinder haben. Und welche Störungen, Bedürfnisse. Am Donnerstag kommen Studenten der TH Soziale Arbeit, sie betreuen drei Familien. Dann haben wir noch Nachhilfe und ein Grafitti-Projekt mit den „Mittwochsmalern“ vom Sozialdienst Katholischer Männer. Dafür durften wir schon die schöne große Wand vom Stadtwaldholz nutzen. Und es gibt den Gartenclub, ein Projekt mit unseren Nachbarn von NeuLand, die herkommen, auch im Winter.

 

Vertrauen die Flüchtlinge Ihnen?

Total. Ja. Zuerst haben sie sich gefragt: Wer ist das? Sie haben mir später auch gesagt: ‚Wir haben gedacht, Du bist nicht gut. Aber Du bist super.‘ Ich musste mir den Respekt selbst schaffen.

 

Wie haben Sie das gemacht?

Bei der syrischen und türkischen Familie durch fachliche Kompetenz. Bei den Roma-Familien durch Erziehungshilfe. Sie haben selbst nicht viel Erziehung genossen im Leben, und sie wissen nicht, wie sie etwas weitergeben sollen an ihre Kinder. Zur Schule zu gehen, sich warm genug anzuziehen, im Winter nicht mit Spaghettiträgern rumzulaufen. Die Einsicht ist da. Der Respekt auch. Und wenn ich sage, dies oder jenes muss jetzt gemacht werden, dann machen sie es. Manchmal sagen sie: „Ich mach es für Dich.“ (sie lacht wieder).

 

Welche Perspektiven haben die Menschen?

Also, für unsere Familien vom Westbalkan ist nach der Gesetzesänderung im Oktober alles möglich. Viele haben schon lange in Deutschland gelebt, manchmal verlassen sie das Land und kehren zurück, sie pendeln hin und her. Es herrscht eine große Unsicherheit.

 

 

Woran merken Sie das?
Es ist Gesprächsthema. Die Familien sehen das ja im Fernsehen. Sie wissen, dass die Abschiebungen schneller gehen sollen und dass sie zu den betroffenen Herkunftsländern gehören. Auch die Anwälte machen ihnen wenig Hoffnung. Manche wollen es nicht wahrhaben.

Was tun Sie?
Ich spreche mit ihnen. Ich frage sie: Was hast Du für Pläne? Wie könnt ihr euch vorbereiten, damit die Abschiebung nicht allzu überraschend kommt? Das hängt auch von den Entscheidern beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ab. Es gibt auch Roma, die gerade einen Aufenthaltstitel bekommen haben. Es ist alles möglich. 

 

Was sind Ihre Ziele hier in der Koblenzer Straße?

Dass die Menschen einen Job finden. Sie bemühen sich schon darum. Dass sie bald eine eigene Wohnung bekommen. Dass sie alphabetisiert werden. Dass wir eine Kleinkindbetreuung hinbekommen. Da stehen wir in Kontakt zum Seniorennetzwerk Bayenthal. Und die Adlerwache, die den Sicherheitsdienst macht, war sogar bereit, ihr Büro zu räumen und in die Teeküche zu ziehen, damit wir einen weiteren Raum bekommen.

 

Was fehlt noch?
Wir brauchen dringend einen Schuppen, eine Unterstellmöglichkeit. Es gibt einen guten Kontakt zu  „Raum.4“ (raumpunktvier) in der Goltsteinstraße. Wir kriegen das ehrenamtlich hin, im Frühjahr. Aber Raum an sich ist ein Problem.

 

Bald werden 900 Menschen in ihre Nachbarschaft ziehen – auf dem Brauereigelände an der Alteburger Straße entsteht eine Containerstadt für Flüchtlinge. Es wird eine Erstaufnahme-Einrichtung, die meisten Menschen werden nur ein paar Wochen bleiben. Was bedeutet das für Sie?

 

Ich werde dort einen Antrittsbesuch machen. Ich werde eine Kooperation anbieten, und meine Sammlung an Angeboten und Menschen.

 

Was kann man denn für einen Aufenthalt von drei, vier Wochen Sinnvolles anbieten?

Erstmal die Erstversorgung. Da geht es um Sachspenden, vielleicht auch um Begleitung zu Arzt und Amt. Was genau der rechtliche Status von Menschen in einer Erstaufnahme-Einrichtung bedeutet, entzieht sich meiner Kenntnis. Sicher werden Dolmetscher gebraucht.

 

Und ein Freizeitprogramm.

Ich kann mir gut vorstellen, dass auch unsere Nachbarn von NeuLand Kontakt aufnehmen werden. Vielleicht können wir auch ein Fest machen. Aber natürlich alles in Absprache mit dem Träger. Wir werden die Johanniter fragen, was sie möchten und was sie brauchen.

 

Wie wird die Containerstadt unser Viertel prägen?
Die Menschen werden auf der Straße zu sehen sein. Andere Gesichter, neue Gesichter. Sie werden sich anschauen, wo sie leben, sie werden vielleicht im Frühling auch an den Rhein gehen. Sie werden sicher nicht den ganzen Tag im Container bleiben.

 

Haben Sie mal Pegida-ähnliche Erfahrungen gemacht?

Zum Glück nicht. Das liegt vielleicht auch an der Abgeschiedenheit der Einrichtung hier in der Koblenzer Straße. Aber wir hatten mal Besuch von einer anderen Seite. Ein mutmaßlicher Salafist kam vorbei und wollte gezielt eine Familie besuchen.

 

Wie nehmen Sie sonst an der Flüchtlingsdebatte teil?
In den sozialen Netzwerken, also bei Facebook. Ich bin in mehreren Gruppen, auch bei ‚Meine Südstadt‘. Es gibt im Netz viele Diskussionen, das ist wertvoll. Ich habe mal über Facebook zu Fernseher-Spenden aufgerufen. Beeindruckend, was an negativen Kommentaren kam. Und beeindruckend, wie viele Reaktionen dann auf diese Kommentare kamen.

 

Was wünschen Sie sich für 2016?

Dass die Stadtverwaltung schnell neuen und sinnvoll gebauten Wohnraum bereitstellt. Nicht nur für Flüchtlinge, auch für alle anderen. Die Wohnungssituation ist angespannt, und die Massenunterbringung von Menschen bedeutet Stress und kann psychische Erkrankungen nach sich ziehen. Ich wünsche mir, dass die Asylbewerber schneller in Arbeit kommen, dass sie bald eine Gesundheitskarte erhalten. Dass sie einfach ein normaler Teil der Gesellschaft werden, und dass sie sich als vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft fühlen können.

 

Frau Kastilan, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

 

Text: Jörg-Christian Schillmöller

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