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Bildung & Erziehung Kultur

Geschundene sprachlose Seele

Dienstag, 24. Januar 2017 | Text: Alida Pisu | Bild: ©Meyer Originals

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Das Märchen vom kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern stand Pate für den Film „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ von Aki Kaurismäki. Wenn es ein zentrales Motiv in Märchen und Film gibt, dann die Kälte. Das kleine Mädchen findet seinen Tod durch Erfrieren und Iris, die Protagonistin des Films, zerbricht an der sozialen Kälte in ihrem Leben. Nicht anders ergeht es ihr in der bewegenden Inszenierung der Geschichte, die im „Freies Werkstatt Theater“ ihre Premiere feierte.

Laufband statt Fließband – zwei Laufbänder stehen auf der Bühne, Symbol für die Tretmühle stumpfsinniger Fabrikarbeit. Iris (Pia Wagner) und ein Erzähler (Michael Knöfler), der auch die Rollen von Mutter und Vater sowie von Arne, dem Lover für eine Nacht, übernimmt, mühen sich auf dem Band ab. Es ist die reinste Tretmühle, die nur unterbrochen wird durch das Abstempeln der Stempelkarte, das im Laufe des Abends immer schneller, immer gehetzter vollzogen wird. Laufen, runter vom Laufband, abstempeln, rauf aufs Laufband, laute, an den Nerven zerrende Maschinengeräusche, Iris bleibt nichts erspart.

Entfremdung und Brutalität

Das setzt sich zu Hause fort. Ein Zuhause, welches sie mit Mutter und Vater teilt, die sie versorgt und bekocht. Küche und Kleinfamilie, ärmlicher Arbeiterhaushalt. Sie sitzt mit zwei Menschen am Tisch, ebenso sprachlos wie sie selbst, aber monströs anmutend. Es braucht nur eine Szene, um ihr Verhältnis auszuleuchten. Drei Teller auf dem Tisch, alle zieht die Mutter zu sich und leert sie laut schlürfend. Bis ins Unerträgliche hinein sind solche Geräusche gesteigert, man hält die Entfremdung, die Gleichgültigkeit und die Brutalität, mit der Iris sich konfrontiert sieht, kaum aus.

Diese Iris, der die Worte fehlen, um sich und ihre Sehnsüchte auszudrücken. Die in eine Tanzbar geht und – graues Arbeitsmäuschen, das sie ist – als Einzige nicht aufgefordert wird. Sind die anderen Mädchen doch hübscher, intelligenter oder haben einen pralleren Busen. Ihr bleibt nur das Schicksal der Sitzenbleiberin, in das sie sich ohne erkennbare Gegenwehr ergibt.

Das rote Kleid

Dann aber kommt ein Moment, der alles verändert. Mit dem Kauf und dem Überstreifen eines roten Kleides streift sie sich gleichsam eine neue, hoffnungsvolle Identität über. Die von ihrer Mutter buchstäblich zerschlagen wird. Unter ihren Schlägen und den Beschimpfungen als Hure geht sie zu Boden, steht jedoch wieder auf. Und geht in die Disco, wo sie auf Arne trifft. Man kennt es aus unzähligen Geschichten, wie es dann so läuft: sie erliegt dem Charme des Herzensbrechers Arne, es folgt ein One-Night-Stand – und Iris ist verliebt. Glaubt an die große Liebe, wartet auf einen Anruf von ihm. Wartet und wartet.

Als er schließlich doch am Küchentisch sitzt, den sie liebevoll gedeckt hat, mit der Tischdecke, die nur zu besonderen Anlässen benutzt wird und dem feinstem Porzellan, sieht er ihr angewidert beim Essen zu. Um ihr dann zu sagen: „Es gibt nichts, was mich weniger interessiert als deine Zuneigung.“ Nur wenig wird in diesem Stück miteinander gesprochen, umso schmerzhafter und verletzender sind die Worte, die fallen. Eigentlich gehen sie über das hinaus, was ein Mensch ertragen kann und es ist auch nur schwer in Worte zu fassen, was man empfindet, wenn man sie hört. Ist es Grauen, ist es Entsetzen über verrohte Menschen, über die Rücksichtslosigkeit, die platt macht, was sich nicht wehrt? Ganz bestimmt ist es tiefes Mitgefühl mit einer geschundenen, sprachlosen Seele, deren Pech es auch noch ist, von einer Nacht voller Seligkeit schwanger zu werden.

Amoklauf mit Rattengift

Nicht, dass sie nun miteinander reden würden. Nein, sie stehen nebeneinander und sprechen ins Leere. Sprechen so, als würden sie sich einen Brief schreiben. Bittet Iris in ihrem Brief um ein kleines bisschen Liebe, so wünscht Arne sich die Abtreibung des Kindes, legt ihr eine große Summe Geld dazu und endet mit: „Und bitte, melde dich nicht mehr bei mir.“ Als wäre das nicht genug, verliert sie bei einem Unfall das Ungeborene, werfen die Eltern sie aus dem Haus.

Und wenn Iris dann in eine Apotheke geht und Rattengift kauft, könnte man es nur zu gut verstehen, wenn sie ihrem Leben ein Ende setzte. Doch sie schlägt zurück, in einem Amoklauf bringt sie alle um. Alle, die ihr wehgetan haben. Selten hat man einen ästhetischeren Amoklauf gesehen, wenn Iris sie alle umtanzt, Rattengift über sie bläst, sie zu Boden gehen und sterben. Und es erinnert ein wenig an das Sterntaler-Märchen, in dem Sterntaler vom Himmel fallen und das arme, kleine Mädchen belohnen. Denjenigen, die nun ihren „Lohn“ bekommen, gönnt man es irgendwie, sie haben ihn sich verdient. Für Iris aber ist dieser Akt eine Befreiung von ihrer Pein und den Peinigern, sie tanzt sich ekstatisch frei. Das gönnt man ihr auch.

Geräusche stehen für Kälte

In dieser Inszenierung, in der so wenig gesprochen wird, lässt Regisseurin Simina German Blicke und Gesten sprechen, Geräusche stehen für Kälte, für Ausgeliefertsein, die Musik wirkt stellenweise folternd. Wenn der Erzähler Tisch und Stühle abbaut, ist das ein Bild vom Zusammenbruch der Familie, vom Tod des Wunsches nach dem Glück und der Liebe. Wenn Iris in verständnislose Gesichter blickt, weiß man Bescheid. Wenn ihr Körper sich windet und aufbäumt, drückt sie mehr von ihrer Qual aus, als sie es je in Worte fassen könnte. Pia Wagner und Michael Knöfler sind unglaublich stark in ihren Rollen. Pia Wagners Iris ist anrührend zart, von einer erstaunlichen Naivität, getrieben von tiefem Liebeshunger und sie ist unglaublich weltfremd. Kein Wunder, dass sie in dieser Welt nicht zurechtkommt und als Racheengel Vergeltung übt. Michael Knöfler kann man nur bewundern für seinen Darstellungsreichtum. Ob er nun den widerlichen, kaltherzigen Schnösel Arne verkörpert oder in die Rolle des Erzählers, der Mutter, des Vaters schlüpft: er lotet sie differenziert aus, bringt aber auch bei jedem zum Vorschein, was sie alle eint: ihre menschenverachtende Seite, die letztlich über Leichen geht.

Großes Theater

Großes Theater, das mit Standing Ovations beklatscht wurde. Trotz, vielleicht aber auch gerade wegen der Schrecken, die kaum auszuhalten, nichtsdestotrotz unbedingt sehenswert sind.

 

„Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ nach dem Film von Aki Kaurismäki. Inszenierung: Simina German, Mit: Pia Wagner, Michael Knöfler, Musik: Yotam Schlezinger.

Freies Werkstatt Theater, Zugweg 10, 50677 Köln
Die nächsten Termine am 11., 12. Februar, 20., 21., 27. April 2017

Text: Alida Pisu

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