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Gesellschaft

Gesünder sterben!

Montag, 7. Januar 2013 | Text: Reinhard Lüke | Bild: Grafik MS

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Alles gut überstanden? Weihnachten, Silvester? Den unvermeidlichen Neujahrsspaziergang gemacht und festgestellt, dass der Dom noch steht, der Rhein nach wie vor Richtung Düsseldorf unterwegs ist und sich über Nacht auch sonst nicht viel verändert hat? Eine beruhigende oder doch eher enttäuschende Erfahrung? Ehrlich gesagt, habe ich dieses Gewese, das da immer um den Jahreswechsel gemacht wird, noch nie verstanden. Okay, man wirft sich in Schale, macht sich einen netten Abend unter Freunden, gießt sich das ein oder andere Gläschen hinter die Binde und lässt es um Mitternacht für ein paar Euro ordentlich krachen. Soviel ökonomisch sinnfreie Verausgabung darf´s in Zeiten des Effizienz-Terrors einmal im Jahr schon sein. Oder doch eher ein paar Papiertüten aufblasen, sie mit einem Hieb zum Knallen bringen und für „Brot statt Böller“ spenden? Quatsch. Dass Milliarden von Menschen noch immer nicht satt werden, hat politische, historische, ökonomische, strukturelle und sonst welche Ursachen, die durch folkloristische Aktionen nicht zu beseitigen sind. Leider.

Mit großer Verwunderung nehme ich jedenfalls immer wieder zur Kenntnis, mit welch inbrünstigen Empfindungen viele Mitmenschen zu Silvester das schnöde Umspringen eines Sekundenzeigers verbinden und ganze Litaneien an guten Vorsätzen fassen. Nun gut, das mit dem „demnächst vielleicht zwischendurch mal etwas weniger trinken“ leuchtet mir angesichts der erwartbaren Unpässlichkeit am Neujahrsmorgen noch ein. Aber all die Absichtsbekundungen, künftig ein völlig neues, endlich sinnhaftes Leben (gesund ernähren, verstärkt Tiere und Kinder achten, mehr Sport und Liebe machen) zu führen und auf jeden Fall ein besserer Mensch zu werden, erscheinen mir doch seltsam. Ich für meinen Teil nehme mir allenfalls vor, am 1. Januar einen neuen Kalender aufzuhängen. Und selbst das schaffe ich nicht immer. Aber gesünder leben, auf Drogen, Völlerei und Exzesse aller Art verzichten? Rechnet sich das überhaupt? Klar, die Vorstellung, mehrere Jahre vor der statistischen Lebenserwartung ins Gras beißen zu müssen, ist nicht schön. Und wenn das letzte Stündlein geschlagen hat, geht´s einem –gleich, in welchem Alter es einen erwischt- vermutlich nicht besonders. Auch von der Psyche her. Ob da ein später Beitritt zu irgendeiner Religionsgemeinschaft mit Jenseits-Garantie hilft, wage ich zu bezweifeln. Aber, was weiß ich?! Womöglich werde ich auf dem Sterbett noch röchelnd nach dem Pastor klingeln. Ausschließen will ich da gar nichts. Ist aber vielleicht gar nicht nötig. Ich wurde schon mal ungefragt getauft und dieses von Gott gespendete Sakrament kann man nach theologischer Logik durch einen Vereinsaustritt gar nicht zurückgeben. Also, auch ich verlorenes Schaf bin beim großen Himmelfahrtskommando dabei. Aber eigentlich gefällt´s mir ja hier unten. Ergo, wäre es doch vernünftig, den Abpfiff möglichst hinauszuzögern. Andererseits: Bei der Vorstellung, jetzt zum Asketen werden, mich mit schweißtreibenden Leibesübungen zu kasteien und fürs Spirituelle womöglich mit klimakterischem Töpfern zu beginnen, gruselt es mich auch. Wie erstrebenswert ist es, später, aber gesund zu sterben? Keine Ahnung. Wie ich überhaupt das Gefühl nicht loswerde, mit zunehmendem Alter immer weniger zu wissen. Was nicht unbedingt damit zu tun hat, dass auch bei mir Tag für Tag Millionen von Hirnzellen für immer ihren Dienst quittieren. Es ist eher das seltsame Phänomen, dass mir zu Fragen, auf die ich früher stets eine Antwort parat gehabt hätte, heute trotz des redlichen Studiums der einschlägigen Tages- und Wochenzeitungen und sonstiger Info-Quellen nichts mehr einfällt.

Ist es gut, dass unsere Jungs und Mädels sich demnächst aus Afghanistan zurückziehen? Und wenn ja, für wen? Was ist derzeit eigentlich im Irak los? Wie geht´s dem Balkan? Demokratie? Finde ich natürlich prima. Aber ist es womöglich unangemessen, Sympathien für syrische Rebellen zu hegen, die ihren Diktator in den Wind schießen wollen, um danach vielleicht einen hinterwäldlerischen Gottesstaat zu errichten? Weiß ich irgendwas über Afrika, Südamerika oder die aktuelle Lage in Tschetschenien? Ich weiß ja nicht mal, was im Rechtsrheinischen los ist. Sollte man die NPD verbieten oder eher nicht? Und was ist mit der Euro-Krise? Schon klar, dass es weniger darum geht, Griechenland als europäische Banken zu retten, bei denen die Hellenen in der Kreide stehen, aber habe ich da konstruktive Lösungsvorschläge? Sind Energiesparlampen ein Segen für das Klima oder wegen des Quecksilbers doch ehe Teufelswerk? Wie sortiere ich in meine ökologische Grundüberzeugung, dass unlängst zu lesen stand, das Ozonloch habe sich wieder ein Stück weit geschlossen? Wie stehe ich zur neuen Zwangsabgabe für Radio- und Fernsehen? Wie geht´s dem deutschen Wald? Ist der Rinderwahnsinn eigentlich geheilt oder kommt das dicke Ende wegen der langen Inkubationszeit noch?

Wo mir zunehmend die Sicherheiten davonschwimmen, treffe ich hin und wieder staunend auf Zeitgenossen, die genau noch wissen, wo´s langgeht. Redliche Menschen, die sich irgendwann zwischen Oberstufe und Examen mal einen Setzkasten im Kopf zugelegt haben, in dem richtig und falsch aufs Allerfeinste sortiert sind. Was immer in der Welt passiert, sie wissen genau, was davon zu halten ist und was umgehend dagegen zu tun wäre. Wenn man denn Zeit hätte. Bis dahin hilft vielleicht Radfahren und mehr Gemüse essen. Logisch, dass für diese mentalen Schrebergärtner Böll und Castaneda noch immer die größten Schriftsteller sind und nach Pink Floyd sowieso keine gute Musik mehr kam. Da kann unsereins nur neidisch werden. Auf der Suche nach Verlässlichem bleibt mir auch Anfang 2013 nur die diffus beruhigende Feststellung, dass alles läuft, wie gehabt. In der neuen Ausgabe der Frauenzeitschrift meines Herzens findet sich nach dem ganzen Deko-Plunder und Plätzchenrezepten zur Vorfreude aufs Fest jetzt wieder die „Brigitte-Diät“, bevor dann spätesten Ende Februar wieder vorösterliche Lämmchen- und Häschenbackformen beworben werden. Die Fitness-Studios verzeichnen den üblichen Neumitglieder-Boom zum Jahresanfang und beim Teleshopping fällt den Betreibern nach dem Konsumrausch vor den Feiertagen auch nichts anderes ein, als obskure Abnehmpillen, shapige Speckverteilungsunterwäsche und Putzmittel feilzubieten. Wobei mich zumindest die letzte Produktgruppe etwas wundert. Gehen die davon aus, dass bei den familiären Feierlichkeiten zum Fest der Liebe die deutschen Behausungen derart eingesaut wurden (sind da womöglich noch Blutspuren vom gemeuchelten Opa auf der Auslegware?), dass flächendeckende Generalüberholungen unumgänglich erscheinen?  Oder sind das schon die ätzenden Vorboten des drohenden Frühjahrsputzes? Ich weiß es nicht!

 

Text: Reinhard Lüke

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