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Bildung & Erziehung Gesellschaft Südkids

Herr Hayati und die Reise nach Deutschland

Montag, 31. Oktober 2011 | Text: Aslı Güleryüz | Bild: Dirk Gebhardt

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Am 30. Oktober 1961 wurde ein Abkommen zwischen Deutschland und der Türkei unterzeichnet. Vor genau 50 Jahren kamen die ersten Gastarbeiter nach Deutschland. Einige blieben tatsächlich “zu Gast” und die Mehrheit verlängerte und ist heute noch da.

Vor den Türken waren bereits die Italiener, Griechen und Spanier gekommen, um als “Gastarbeiter” Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufzubauen. Nach der Unterzeichnung des Anwerberabkommens  kurz nach dem Militärputsch von 1960 kamen zirka 8.600 Türken. Zu dem Zeitpunkt war Hayati Bekta? 12 Jahre alt und noch Schüler im Dorf Hac?bekta? in Kappadokien. Nach Abschluss der Schule beschließt er, selber Lehrer zu werden. Er nimmt 1965 in K?r?ehir das Studium zum Grundschullehrer auf. Als er drei Jahre später seine erste Stelle als Lehrer annimmt, leben zirka 170.000 Türken in Deutschland. Er ist Lehrer in einer Dorfschule in dem kleinen, kurdischen Dorf Ba?la, das in der Nähe von Ankara liegt. Nachdem er dort zwei Jahre unterrichtet hat, muss er zum Militärdienst. Dort unterrichtete er anderthalb Jahre lang analphabetische Soldaten. Nach dem Militärdienst zieht er nach Ankara, wo er in einem Waisenhaus tätig ist und gleichzeitig an der pädagogischen Hochschule weiter studiert. In Ankara ist viel los, rechte und linke Gruppen bekämpfen sich auf offener Straße. Das Militär greift erneut ein- aber diesmal ohne zu putschen – und die Regierung wechselt. Hayati Bekta? ist Anfang 20. Er ist aktif in der Politik und der Gewerkschaft. Hayati erlebt, dass Freunde von ihm verschwinden oder in Gefängnis landen. Seine Mutter macht sich Sorgen um ihn und rät ihm, nach Deutschland zu gehen. Deutschland kennt er bislang nur aus seiner Zeit als Dorfschullehrer in dem kurdischen Dorf. Dort waren sechs junge Männer ausgereist und in den Ferien zu Besuch gekommen. Ihm hatten sie als Geschenk sein erstes Hemd aus Naylon mitgebracht. Und das erste Transistorradio hatten sie auch mitgebracht. So war er neugierig auf Deutschland geworden. Im November 1973 hatte Deutschland ein Anwerberstopp für alle ausländischen Arbeitnehmer beschlossen. Alle Vertragsländer waren betroffen. In der BRD leben inzwischen 710.000 Menschen aus der Türkei.

Hayati Bekta? bechließt als Student nach Deutschland zu kommen. 1974 wird er als Student der Pädagogischen Hochschule in Köln aufgenommen. Zunächst erlernt er die Sprache zwei Jahre lang. Hayati Bekta?: “Ich war zwei Jahre lang als Gaststudent eingeschrieben. In dem Kurs des Studienkolleg habe ich viele Freunde gewonnen, Griechen, Kurden und Araber. Ich habe damals in einem Studentenwohnheim am Sachsenring gelebt. Zu dritt haben wir uns ein Zimmer geteilt. Es wohnten nur Türken dort. Auf der ersten Etage wohnten die Mädchen, auf der zweiten die Jungs. Um mich in der Zeit finanzieren zu können, arbeitete ich im Türkischen Konsulat gleich nebenan. Es gab dort keinen Kulturattaché und ich konnte aushelfen. Ich habe die türkischen Lehrer verschiedenen Schulen zugeteilt und sie betreut”.

Hayati Bekta?, deutsch-türkischer Lehrer an der GGS Zwirnerstrasse.

 

Hayati Bekta? erinnert sich zurück: “Anfangs hatte ich hauptsächlich türkische Freunde, da ich der deutschen Sprache nicht mächtig war und keinen Kontakt knüpfen konnte. Doch an der Uni lernte ich auch Deutsche kennen. Nach meinem Unterricht im Studienkolleg fragten sie mich ab und ließen mich das Gelernte wiederholen. Heute noch habe ich Kontakt zu einigen von ihnen. In der Zeit scheuten sich die Deutschen genauso wie die Türken, einander kennen zu lernen. Wir hatten Berührungsängste.”

1977 wird Hayati Lehrer an einer Hauptschule im Agnesviertel. Dort soll er 12 Jahre lang als Klassenlehrer tätig sein. 1979 hat er auch seine Ehefrau Brigitte dort kennengelernt und erzählt lachend wie das war: “Wir heirateten schnell, 1980. Meine Schwiegereltern waren am Anfang sehr skeptisch. Sie wollten ganz genau über meine Familienverhältnisse in der Türkei informiert werden. Sie wollten wissen, ob ich in der Türkei bereits verheiratet war, wohlmöglich mit mehreren Frauen? Sie hatten gehört, das Moslems mehrere Frauen heiraten konnten”. Hayati Bekta? ist Alevite, die heiraten nur eine Frau.

Am 12. September 1980 gab es in der Türkei erneut einen Militärputsch. Viele Regiemgegner suchten Asyl in Deutschland. Im gleichen Jahr kommt Brigittes und Hayatis Sohn Deniz auf die Welt. Zwei Jahre später bekommen sie Tochter Sahra. Im Oktober 1983 führt Deutschland die Rückkehrprämie ein, um ausländische Arbeitnehmer auf Nimmerwiedersehen zur Heimreise zu motivieren. Hayati Bekta? hat nicht vor, zurück zu kehren. Statt dessen wird er im Personalrat aktiv und gründet den ersten türkischen Lehrerverein. In dem Büro des Vereins am Rudolfplatz ist er Mitgründer des türkischen Ensembles “Arkada? Tiyatrosu“. Außerdem bringt er mit Gleichgesinnten eine deutsch-türkische Monatszeitung heraus. Sie wird von 1985 bis 1987 gedruckt.

1989 reist Hayati Bekta? zum ersten Mal wieder in die Türkei. Nach 15 Jahren. In diesem Jahr wird die Hauptschule im Agnesviertel, an der er unterrichtete, geschlossen. Er kommt an die Grundschule Zwirnerstraße, zurück in die Südstadt, dahin, wo seine Reise nach Deutschland angefangen hatte. 1990 erhält er neben der türkischen Staatsangehörigkeit auch die deutsche.

Seit 22 Jahren unterrichtet er Türkisch, Schach und Fußball. Auch die Zeitung der Schule gestaltet er mit den Schülern. An der Schule nennen ihn alle nur “Herr Hayati” und ich habe mir sagen lassen, dass er der populärste Lehrer der Schule ist. Eigentlich sollte er dieses Jahr pensioniert werden. Doch er wollte noch nicht und darf bis 2014 bleiben – dann muss er gehen.

Ich stelle ihm natürlich die Frage, die allen Türken gestellt wird: Welchem Land fühlt er sich zugehörig? Hayati braucht nicht zu überlegen: “Ich fühle mich mit Deutschland sehr verbunden. Ich konnte hier die Dinge tun, die mir in der Türkei verboten waren: Ich konnte politisch und kulturell aktiv sein. Ich konnte ungestört an der Mai-Demo teilnehmen, ich konnte zu Friedensdemonstrationen gehen.”
Wir verlassen das Klassenzimmer und gehen auf den Schulhof. Ein paar Jungs spielen Fußball und fragen, ob Herr Hayati mitspielen wolle. Ein Mädchen kommt gerade an uns vorbei, sie weint. Direkt ist Herr Hayati “im Dienst” und erkundigt sich, was passierte. Wir gehen in Richtung Schultor und schauen Herrn Hayati fragend an. Er hat frei und wir könnten gemeinsam gehen. “Ich bleibe noch ein bisschen”, sagt er “Ich gehe dann gleich.”
Genau so habe ich den Herrn mit den graumelierten Haaren und den weichen Gesichtszügen eingeschätzt! Wie lange er dann geblieben ist, weiß ich gar nicht.
 

Text: Aslı Güleryüz

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