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Gesellschaft Glaube

„Ich überlasse Euch nicht den Islam!“

Montag, 1. November 2010 | Text: Aslı Güleryüz | Bild: Dirk Gebhardt

Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten

Kirche als Veranstaltungsort: 14. Talk-Gottesdienst mit Lale Akgün in der Lutherkirche. Da ist ganz schön was los in der Lutherkirche! Da wird in der Kirche Tango getanzt, Zigeunermusik gespielt, Skulpturen entstehen. Es wird gegen den Irak-Krieg und für afrikanische Flüchtlinge demonstriert. Und „Talk-Gottesdienst“ findet statt. Da wird also „getalkt“. Ich dachte immer, in der Kirche wird sowieso geredet. Meistens redet einer, der Pfarrer. Aber ich als Muslimin wohne nicht so oft einem Gottesdienst bei, zuletzt vor vielen, vielen Jahren als ich als Schülerin an einem ökumenischen Gottesdienst teilgenommen habe. Ich war am Sonntag sehr überrascht, solch eine Performance in der Kirche mit zu erleben.

Wie kann man den Reformationstag in Köln feiern?
Ungefähr 80 Menschen kamen am Sonntag, den 31. Oktober in die Lutherkirche. Am Reformationstag. „Nur gemeinsam und im Bündnis kann man den Reformationstag feiern“, sagt der engagierte Pfarrer Hans Mörtter und nimmt diesen aussagekräftigen Tag zum Anlass, um die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Lale Akgün zum Talk-Gottesdienst einzuladen. Sie beide verbindet eine Freundschaft und die Meinung, Religion müsse ständig reformiert werden. Religion muss moderner werden und gesellschaftsnaher.

Nach der Einführung in den Gottesdienst mit viel Musik, die mich an us-amerikanische Filme mit Gospelmusik und Halleluja erinnerte, stellte Pfarrer Mörtter seiner Gemeinde Lale Akgün vor. Sie kam 1963 als 9-Jährige Tochter eines nicht gläubigen Zahnarztes und einer gläubigen Mathematikern nach Deutschland. Unterhaltsam und offen erzählt Frau Akgün über Spannungen in der Familie, aufgrund der religiösen Differenzen ihrer Eltern. Sie beschreibt ihre Sozialisation und Integration in die deutsche Gesellschaft, die Herrn Sarrazin den Wind aus den Segeln genommen hätte. „Der Islam,“ sagt Frau Akgün „ist nicht das Problem in Deutschland“. Religiöse Unterschiede können nicht verantwortlich gemacht werden für eine nicht geglückte Integration von Menschen. „In Berlin-Dahlem“ fährt sie fort „gibt es auch keine Probleme. Dort liegen christliche und islamische Botschaften neben einander. Es gibt keine Probleme. Bei der so genannten Integrationsproblematik geht es um soziale und bildungsorientierte Probleme.“

Nicht nur hinkommen sondern auch ankommen
Sie selbst habe sich mit den deutschen Festen auseinander gesetzt als ihre Tochter in den Kindergarten kam und die Feste „adoptiert“. Die deutschen Feste seien sehr attraktiv für Kinder: zu Karneval verkleide man sich; Ostern bemale man Eier, suche diese und den Osterhasen dann im Garten; Sankt Martin sei ein stattlicher Mann auf einem Pferd, der sein letztes Hemd mit einem Bettler teile; der Nikolaus stecke den Kindern Geschenke in den Stiefel und vom Weihnachtsmann könne man sich etwas wünschen. „Man muss in eine Gesellschaft nicht nur hinkommen sondern dort auch ankommen“, sagt Lale Akgün. Das Feiern dieser Feste wäre für sie nicht nur ein leeres Ritual, sie teile auch die vermittelten Werte.

„Ich überlasse euch nicht den Islam“
Lale Akgün ist überzeugte Muslimin und verteidigt ihre Religion gegen Angriffe. Sie macht es Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Vorwurf, zu behaupten, es gäbe 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, die alle noch integriert werden müssten: „Das ist kränkend für all’ die, die gut integriert sind. Ich möchte mir nicht ein Deutschland vorstellen, mit 16 Millionen desintegrierten Menschen“. Inzwischen wandern mehr gut ausgebildete und integrierte Türken aus Deutschland aus als ein. „Brain-Drain“ nennt man dieses Phänomen. Wenn das so weiter gehen würde, ja dann, stimmte die Aussage. Dann hätte Deutschland am Ende tatsächlich nur noch die sozial- und bildungsschwachen Menschen mit Migrationshintergrund übrig.
So wie Akgün die deutsche Politik kritisiert, so kritisiert sie auch den Islam: „Der Islam braucht dringend eine Reform! Wir brauchen einen modernen Islam. Was kann der Islam mir an Sinn geben? Mir, einer 59-jährigen, berufstätigen, emanzipierten, modernen Mutter in Köln? Nicht das, was im Moschee-Verein gepredigt wird. Ich überlasse euch nicht den Islam!“

Kirche als Veranstaltungsort
Viel wird am Sonntag auch über Lale Akgüns Bücher „Tante Semra im Leberkäseland“ (2008) und „Der getürkte Reichstag“ (2010) gesprochen. In ihrem ersten Buch erzählt sie amüsant über die Integration ihrer Familie und in ihrem kürzlich erschienen Buch geht es um die „männliche Kampfsportart Politik“. Zeitweise vergesse ich, dass ich in einer Kirche an einem Gottesdienst teilnehme. Es kommt mir vor als säße ich in der Mayerschen Buchhandlung und Lale Akgün trägt ihre Bücher vor. Der Pfarrer Mörtter sitzt lässig im schwarzen Anzug Akgün gegenüber, beide in roten Ledersesseln. Einen Tag nachdem der Ministerpräsident von Bayern und CSU-Vorsitzender Horst Seehofer beim Parteitag in München die verstärkte Zuwanderung ausländischer Fachkräfte nach Deutschland ablehnt, ist die Diskussion in der Lutherkirche aktueller denn je. Pfarrer Mörtter appelliert an die Gemeinde, tolerant zu sein, Migranten und dem Islam gegenüber: „Wir alle gehören zusammen“.
Die Besprechung der Bücher von Frau Akgün lässt dem Reformationsproblem des Islam kaum Platz. Und so verlasse ich am Sonntag leicht beschwingt die Kirche mit der ungeklärten Frage wie der Islam reformiert werden könnte.

 

Text: Aslı Güleryüz

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