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Kultur

Kämpfe und Kriege

Dienstag, 7. Juni 2016 | Text: Alida Pisu | Bild: Meyer Originals

Geschätzte Lesezeit: 2 Minuten

Nicht ohne Grund hatte Theaterleiterin PiaMaria Gehle vor Beginn der Vorstellung von „Flight or fight“ im “Freies Werkstatt Theater“ gewarnt: „Es könnte etwas laut werden. Wenn Sie empfindlich sind, nehmen Sie einen der bunten Hörstöpsel.“ In der Tat, es wurde etwas laut. Und sollte jemand geglaubt haben, jede Tanztheaterproduktion wäre per se ein ästhetischer Genuss, so wurde er rasch eines Besseren belehrt.

Denn Choreograph und Tänzer André Jolles drückt in seinem Tanz den existentiellen Kampf ums Überleben aus. Und der spiegelt sich wieder in der Darstellung des geschundenen und gemarterten Körpers. Schön im Sinne von ästhetisch schön ist das nicht und wohl auch gar nicht gewollt. Aber intensiv ist es und so, wie uns Andre Jolles seine nackte, schutzlose Haut zeigt, so geht dieser Tanz an den Rändern und Grenzen von Zivilisation und Menschlichkeit buchstäblich unter die Haut.
Dazu braucht es nicht viele Requisiten. Lediglich einen Fernseher, einen alten, ollen Übersee-Koffer und ein Schlagzeug, ausgiebig genutzt, ja geradezu malträtiert von Dominik Mahnig.

Auf dem Fernseher läuft die aktuelle Tagesschau, das Schlagzeug erzeugt eine auf- und abschwellende Geräuschkulisse, als langsam erst eine Hand, dann ein Bein aus dem Koffer hervor kommen, nein, besser gesagt: sich heraus kämpfen, schließlich der ganze Körper, als wäre es eine schwere Geburt, so anstrengend, so ins Leben hinein gestoßen, so sich selbst überlassen. Halt, nicht ganz sich selbst, ist doch der Koffer das Zuhause dieses Menschen, der seltsam gesichtslos erscheint, es ist im Dunkeln lediglich zu erahnen. Wer er ist? Ein Schutzsuchender gewiss, einer von denen, die auf der Flucht sind, die wir im Fernsehen sehen, ohne sie zu kennen.

Das ist das Tolle an der Inszenierung von Andrea Bleikamp: mit minimalsten Mitteln erzeugt sie Bilder im Kopf, knüpft sie Verbindungen. Etwa wenn Jelles vor einem Eimer kniet, mit auf dem Rücken verschränkten Händen und seinen Kopf wieder und wieder in den mit Wasser gefüllten Eimer steckt. Wer da nicht unwillkürlich an Waterboarding denkt, diese perfide Foltermethode, die das Ertrinken simuliert, der hat noch nie Fernsehen geguckt. Und der erkennt auch nicht Idomeni oder andere Orte des Schreckens, wenn Jelles sich mit seinem Koffer und zwei Stöcken ein Zelt bastelt und anschließend aus grauen Steinen Häuser errichtet. Nicht von ungefähr bildet das beim Waterboarding verschüttete Wasser eine Grenze zwischen Zelt und Häusern. Es hat sich eigentlich nichts verändert seit Georg Büchners Zeiten und seinem: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen.“ Nur das eine: das heute Krieg geführt wird gegen die Hütten. Und wir dabei zusehen. Vom Fernsehsessel aus. Bier in der Hand, Füße auf dem Tisch. Schön gemütlich.

 

Dabei vergessen wir aber unsere eigene Vergangenheit. Die Flüchtlingswellen, die1. und 2. Weltkrieg nach sich zogen mit ihren zig Millionen Menschen, die heimatlos wurden und irgendwie und irgendwo eine neue Bleibe fanden. Der olle Überseekoffer mit seinen Initialen N W, in den Jelles sich immer wieder zurückzieht, der ihm Schutz und Schale ist, erinnert an sie.

Die Inszenierung lotet Grenzen aus. Körperliche Grenzen: was kann ein Körper aushalten und wie passt er sich Grenzsituationen an. Aber sie lotet auch regionale Grenzen aus, bildet sie oder löst sie auf. Wenn in der Tagesschau Landkarten gezeigt werden, werden die Bilder visuell verfremdet. Sie wuchern und wabern, kleine Bomben detonieren unentwegt und lösen sich wieder auf. Wer zieht die Grenzen und wer bestimmt, wer auf der einen oder anderen Seite der Grenze steht?

Diese Fragen kann die Inszenierung nicht beantworten, wie sollte sie auch. Doch sie schafft es, dass der Zuschauer sich diesen Fragen zwingend stellt. Das ist unbequem und an den Nerven zerrend, man möchte sich ihrer entledigen, aber es ist unmöglich. So wenig, wie Jelles sich dem fulminant treibenden Schlagzeug-Gewitter  von Dominik Mahnig entziehen kann. Und ebenso wenig, wie die 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, den Ursachen ihrer Flucht entkommen können, wenn Grenzen sie stoppen.

„FIGHT OR FLIGHT“, Tanztheaterproduktion wehrtheater/andrea bleikamp
Mit: André Jolles, Regie & Konzept: Andrea Bleikamp
Livemusik & Komposition: Dominik Mahnig , Video: Jens Standke, Choreographie: André Jolles
Weitere Termine: 7. Juni, 3., 4., 5. Juli 2016?Freies Werkstatt-Theater, Zugweg 10, 50677 Köln
 

Text: Alida Pisu

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