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Kultur

„Das Boot ist voll“:

Donnerstag, 23. Januar 2014 | Text: Jörg-Christian Schillmöller | Bild: Meyer Originals

Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten

Packendes Gegenwartstheater über Flucht und Migration
Ein Mann sitzt in einem ziemlich kleinen, eckigen Aquarium. Den Kopf unter Wasser. Der Mann schreit. Luftblasen steigen auf. Lampedusa? Sizilien? Malta? Das Licht geht aus. Stille.

Das ist eines von vielen Bildern aus dem Stück „Das Boot ist voll“, das im „Freien Werkstatt Theater“ uraufgeführt wurde. Wen Flucht und Migration – neben dem Klimawandel die wichtigsten Themen der Gegenwart – interessieren, darf dieses sehenswerte Stück nicht verpassen. „Das Boot ist voll“ ist keine Fiktion. Nichts ist erfunden, kein einziges Wort. „Jeder Satz ist ein Zitat“, sagt gleich zu Anfang ebenjener Mann, der später im Aquarium untertauchen und schreien wird.

Inken Kautter vom FWT und der Regisseur Nico Dietrich haben das Stück geschrieben (ihre dritte Kooperation). Die beiden gehen das schwierige und komplexe Thema „Flüchtlinge“ mit Interviews an. Mehr als 20 Akteure haben sie befragt – im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, in der Kölner Ausländerbehörde, im Bundestag und Landtag von NRW. Sie sprachen mit Flüchtlingsorganisationen wie „Kein Mensch ist illegal“, mit Aktivisten – und nicht zuletzt: mit Asylsuchenden, Zuwanderern, Migranten. Mit Betroffenen eben.

„Das Boot ist voll“ trägt all diese Interviews zusammen. Die vier Schauspieler verkörpern im Wechsel die Akteure, berichten von ihrer Tätigkeit, ihrem Alltag, ihren Sorgen und Ängsten. Hier wird nichts beschönigt – zum Beispiel das fachwort-durchsetzte Beamtendeutsch des Menschen aus dem Bundesamt, der von „Erstaufnahme-Einrichtungen“ spricht und erläutert, welchen Status ein Flüchtling in Deutschland erhalten kann.

Kommentiert wird auch nicht das sehr pragmatische Verhalten der Frau aus der Kölner Ausländerbehörde, die von Rückführung (was für ein Wort) spricht – und beharrlich wiederholt: „Ich bin nur ein Neutrum“ (damit meint sie: Sie setzt nur die Regelungen um). „Wir nehmen jede Haltung ernst, wir verdammen niemanden“, sagt Inken Kautter. „Für uns ist Theater ein gesellschaftliches Analysemittel“, sagt Nico Dietrich in Anlehnung an den Regisseur Hans-Werner Kroesinger, einen der Vorreiter des Dokumentartheaters.

Die Analyse funktioniert über die Bestandsaufnahme. „Das Boot ist voll“ ist erlebte Gegenwart im Köln des Jahres 2014. Höchste Zeit, das sich ein Theaterstück diese Wirklichkeit vornimmt, sie durchleuchtet, erfahrbar macht – und uns Südstädtern die andere Seite unserer Stadt präsentiert. Wer war denn schon im Asylbewerberheim an der Vorgebirgsstraße? Wer hat sich mit Asylanträgen herumgeschlagen – in einer Sprache, die er/sie nicht spricht? Wer hat Erfahrungen mit Flucht, Vertreibung, Heimatlosigkeit, Gewalt, Krieg, Diskriminierung, Trennung von der Familie, Hunger, Arbeitslosigkeit und Vereinsamung?

Besonders eindringlich (und bemerkenswert gespielt von Valentin Stroh) ist der Lebensbericht einer Äthiopierin, die in einem Deutschkurs von sich erzählt und am Ende hart und ehrlich sagt: „Das ist meine Geschichte, und ich möchte nicht, dass das im Theater erzählt wird.“ Wird es aber doch. Und darin geht es um den Bürgerkrieg in ihrer Heimat, um die Flucht über Kenia, die Ankunft in Deutschland: „Man hat mich mit Kakerlaken begrüßt“, schildert sie die Zustände im Aufnahmeheim. Noch einmal: Nichts ist erfunden. Nichts ist zugespitzt. Alles ist wahr. Das ist ja das Traurige.

 


von links nach rechts: Oleg Zhukov, Valentin Stroh,Oleg Zhukov, Aljoscha Sena Zinflou, Sermin Kayik.

Und eine neue Bühnenerfahrung macht der Zuschauer auch: „Das Boot ist voll“ spielt in der (renovierten) Kellerbühne des Freien Werkstatt Theaters. Sie ist 20 Meter lang (!), so dass es nur zwei Stuhlreihen gibt, die sich über die gesamte Länge ziehen. Viel Arbeit für Christoph Wedi, diesen schmalen, langen Raum auszuleuchten (was ihm wieder einmal ästhetisch ansprechend gelingt). Ja, der Kopf gerät in Bewegung, nicht nur durch das Mitdenken, sondern durch das Geschehen, das mal ganz links, mal ganz rechts stattfindet, unterstützt von drei Bildschirmen, die das Geschehen – live gefilmt – einfangen.

Hinzu kommen die wenigen, symbolischen Requisiten: Aktenordner, Stempel, Stühle, ein fahrbarer Gitterzaun, Taschenlampen, große Kunststoff-Tüten mit Reißverschluss. Und die Requisiten ändern ihre Bedeutung: Plötzlich werden die Stempel ins Aquarium gekippt – und treiben oben wie die Flüchtlinge im Meer vor Lampedusa. Der runde, orangefarbene Stempelhalter wird dann zum Mini-Hubschrauber, der rotierend über dem Aquarium schwebt.

Die 100 Minuten sind sehr dicht und sehr schnell herum. Viele Fragen möchte man stellen, an die Behördenvertreter, an die Politiker und Aktivisten, an die Flüchtlinge selbst. Am Ende hat man viel gelernt (es gibt in ganz Deutschland eine Million Menschen, die komplett illegal leben) und sich zurecht gefragt, ob es eine Willkommenskultur in Deutschland gibt, die diesen Namen verdient.

„Das Boot ist voll“ gibt keine Antworten. Das Stück sagt, was ist. Und das gibt Anlass genug, mit vielen Gedanken im Kopf aus dem Keller zu gehen, zurück in das wohlbehütete Südstadt-Leben – aber mit der Information im Kopf, das es 30 Heime in Köln gibt, dass allein hier 10.000 Menschen illegal ihr Dasein fristen, und dass viele von ihnen offen sagen (auch das ein Zitat): „Das ist doch kein Leben.“

Tolle Leistung der vier Schauspieler, tolles Konzept der beiden Autoren. Tolles Gegenwartstheater über Köln mitten in Köln.

 

„Das Boot ist voll“ im Freien Werkstatt Theater
Nach „Wegschließen – und zwar für immer“ das neue Dokumentartheaterstück von Inken Kautter und Nico Dietrich. ?Mit Valentin Stroh, Oleg Zhukov, Aljoscha Sena Zinflou, Sermin Kayik.?

Text: Inken Kautter / Nico Dietrich?

Regie: Nico Dietrich?

Dramaturgie: Inken Kautter?

Ausstattung: Giovanni de Paulis

 

Folgende Termine am 25., 30., 31. Januar 2014, jeweils um 20 Uhr

 

Freien Werkstatt Theater Köln

Zugweg 10, 50677 Köln

Text: Jörg-Christian Schillmöller

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