Lesestoff: Bücher für den Herbst
Donnerstag, 10. November 2022 | Text: Nora Koldehoff
Die Abende werden länger , die Tage kürzer. Zeit, sich mit einem guten Buch auf’s Sofa zurückzuziehen. Hier kommen ein paar neue Lektüre-Vorschläge.
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Paul Bokowski
Schlesenburg
„Schlesenburg“ – so heißt die Siedlung, in der der Erzähler mit seiner Familie wohnt. Und vielen weiteren Familien, beinah alle aus Polen stammend.
Die Flucht der Eltern aus der alten Heimat hatte vor der Geburt des Neunjährigen stattgefunden, wie bei vielen seiner Freunde auch. Das Leben der Kinder in der Schlesenburg ist dennoch geprägt von dieser Erfahrung; immer wieder spielen sie „Flucht“, in Varianten, die in ihren unterschiedlichen Ausprägungen von den Erinnerungen der Elterngeneration leben. Wie auch die nahen Verwandten, die sie nie kennengelernt habe und deren Nähe und Verlust theoretisch bleiben, nicht greifbar. Die Geschichte beginnt mit dem Tod der Witwe Galówka, die bei einem Brand in ihrer Wohnung stirbt und dem Einzug eines neuen Mädchens, Apolonias, in die Burg, mit der sich der Protagonist bald anfreundet.
Die Welt, in der sich der Neunjährige bewegt, wird nicht nur durch die Kindheitserinnerungen vom Spielen in der Wanne und dem Snacken von Instant-Eistee plastisch, sondern vor allem durch den genauen Blick auf die Figuren, die die „Burg“ bewohnen und ihre Art, in Worten und in schweigenden Taten aufeinander zu reagieren. Der dünne Kuba, Darius, der plötzlich verschwindet, die beiden despotischen alten Zwillingsbrüder Baranowski und allen voran die Eltern des Erzählenden, sie alle bringen ihre Erinnerungen mit, ihren Schmerz und ihr Suchen, zwischen dem sich der Neunjährige den eigenen Weg, den eigenen Platz zurechtsucht. Seine mit feinem Humor erzählte Innensicht, der warme Blick auf die Eltern, mit denen manchmal die gemeinsame Sprache fehlt, der begeisterte auf die direkte und furchtlose Apolonia und der neugierige auf die Geschehnisse und unausgesprochenen Gesetze in der Siedlung machen den Sog des Romans aus.
Paul Bokowski: „Schlesenburg“, btw Verlag, 520 Seiten, 22 Euro
Nora Burgard-Arp
Wir doch nicht
Matilda lebt in einer Diktatur – genauer gesagt in einem Deutschland in der näheren Zukunft. Über Frauen und ihre Körper wird in dieser Welt von Männern bestimmt. Matilda hat die Entwicklungen der vergangenen Jahre zwar mit Sorge, trotzdem aber weitgehend unbeteiligt miterlebt. Obwohl ihre Mutter sie schon vor Jahren zur Flucht überreden wollte, blieben Matilda und ihr Ehemann Finn in Deutschland. Ernst wird es für sie erst jetzt, denn die 37-jährige ist schwanger – und will es nicht sein. Als Frau hat sie in dieser Welt allerdings keine Wahl. Denn die Rolle einer Ehefrau, so schreibt es die Regierung vor, hat Mutter zu werden. Um die Kontrolle über ihren Körper zu behalten, beendet Matilda ihre Schwangerschaft heimlich mit einem Kleiderbügel.
Doch Matildas Verletzungen entzünden sich. Nun muss sie ihre Tat vor vor Finn, ihren Freundinnen und den Kontrollmechanismen des Regimes geheimhalten. Nora Burgurd-Arp zeichnet in ihrem Debütroman das Bild einer beunruhigend realistischen Dystopie und zeigt damit, welche Auswirkungen das Erstarken einer politischen Rechten und das Schweigen einer gesellschaftlichen Mehrheit haben können. Man will unbedingt wissen, wie es mit der Protagonistin weitergeht. Ein Pageturner.
Nora Burgard-Arp: „Wir doch nicht“, Katapult Verlag, 224 Seiten, 22 Euro
Anika Landsteiner
So wie du mich kennst
Mit der Asche ihrer Schwester Marie steht Karla in einer bayerischen Kleinstadt. Marie, die ihre Heimat anders als Karla schon früh verlassen hat, ist in ihrer Heimat Manhattan vor ein Auto gelaufen. Karla ist schockiert, denn die Schwestern standen einander trotz der räumlichen Distanz sehr nah. Also fliegt Karla nach New York. Sie will die Wohnung ihrer Schwester ausräumen und dadurch Klarheit gewinnen. Wie sah Maries Leben aus? War ihr Tod ein Unfall oder Suizid? Doch während sie die Habseligkeiten ihrer Schwester sortiert, stößt sie auf Fotos, die das Bild, das sie von ihrer Schwester hatte, von Grund auf verändern.
Anika Landsteiners Roman ist ein sensibles, feministisches Porträt zweier Schwestern. Zwar wirkt die Geschichte stellenweise beinahe wie ein Krimi, doch es geht in dieser Geschichte nicht um die Jagd nach einem*r Täter*in, sondern um zwischenmenschliche Beziehungen. Die Autorin bezeichnet ihr Buch vor allem als Familienroman. Tatsächlich handelt der Roman auch von häuslicher Gewalt, von Scham und Verstecken, und davon, wie gut wir einander wirklich kennen: Welche Geschichten erzählen wir einander über uns selbst? Wie wollen wir selbst von denjenigen, die uns am nächsten stehen, wahrgenommen werden? Was trauen wir uns, preiszugeben? Durch die in abwechselnder Perspektive erzählten Kapitel fällt es leicht, die Gedankenwelten der Schwestern nachzuvollziehen. Die beiden Figuren werden dadurch sehr plastisch.
TW/CN: In diesem Buch wird sexuelle Gewalt thematisiert.
Anika Landsteiner: „So wie du mich kennst“, Fischer Taschenbuch Verlag, 352 Seiten, 11,99 Euro
Emilie Pine
Botschaften an mich selbst
Fröhlich sind Emilie Pines autobiografische Essays nicht – aber berührend und aufrichtig. Gleich im ersten Kapitel seziert die irische Autorin das komplizierte Verhältnis zu ihrem alkoholkranken Vater. Sie erzählt, wie und ihre Schwester nach Griechenland reisten, um den ausgewanderten Vater zu pflegen, wie sein Alkoholismus sie prägte, und wie ambivalent ihre Gefühle diesem Mann gegenüber waren und bis heute sind. Schonungslos ehrlich geht es weiter, denn in den folgenden Essays beschreibt Pine auf verschiedenste Facetten ihres Lebens als Frau. Pine spart in ihren autobiografischen Essays keine unliebsamen Themen aus: So schreibt sie von unerfülltem Kinderwunsch und künstlicher Befruchtung, von sexueller Gewalt, einem gestörten Verhältnis zum Essen und von anderen vermeintlichen Tabuthemen ihres weiblichen Körpers.
Pine schreibt roh und aufrichtig und zieht die Leser*innen mit eindringlicher Sprache in die eigenen Überlegungen und Reflexionen – in Irland wurde das Buch zum Nr. 1 Bestseller. Zwischen schwerverdaulichen Themen finden sich jedoch ebenso Momente großen Glücks und tiefer Zufriedenheit. So wirken die lose zusammenhängenden Essays schließlich auch nicht deprimierend, sondern vor allem ehrlich.
TW/CN: In diesem Buch wird sexuelle Gewalt thematisiert.
Emilie Pine: „Botschaften an mich selbst“, btw, 224 Seiten, 20 Euro (oder 11 Euro Taschenbuch)
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