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Gesellschaft

Pflegende Angehörige – Hilfestellung für mehr Gelassenheit

Mittwoch, 25. November 2020 | Text: Isabell Knief

Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Selbst ohne weltweite Pandemie stoßen pflegende Angehörige an Belastungsgrenzen. In den letzten Monaten ist der Alltag der etwa 2,5 Millionen Menschen, die in Deutschland Angehörige begleiten und pflegen, nicht einfacher geworden. Wichtige Entlastungsangebote wie ambulante Pflegedienste sind teils weggefallen, finanzielle Probleme gewachsen. Dazu die Sorge um eine mögliche Ansteckung mit SARS-Cov-2 mit erhöhtem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf. Sorgen über Sorgen – und kein Ende in Sicht?

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Eine Möglichkeit, Erleichterung zu empfinden, ist der verstärkte Blick nach innen mittels Introvision. Wörtlich übersetzt bedeutet Introvision „Hineinschauen“. Wie diese achtsamkeitsbasierte Methode helfen kann, pflegende Angehörige in schwierigen Situationen zu unterstützen, haben WissenschaftlerInnen der TH Köln untersucht. Noch ohne speziell auf die Bedingungen während der Pandemie zu schauen, sondern „nur“ auf die Belastungen für Betroffene unter „normalen“ Umständen.
Frau Prof. Dr. Dagmar Brosey und Frau Prof. Dr. Renate Kosuch von der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften am Campus Südstadt haben die Begleitforschung für das Projekt „Gelassen – nicht alleine lassen“ geleitet. In dem Zusammenhang haben sie unter anderem das Gelassenheits-Barometer entwickelt. Denn es ist nicht einfach, einen angehörigen Menschen mit Behinderung oder Erkrankung wie beispielsweise Demenz zu begleiten und zu pflegen. Da sind Tage, an denen Angehörige die gemeinsame Zeit genießen können. Aber es gibt auch Tage, die ermüden, frustrieren oder belasten – bis dahin, dass in Grenzsituationen die eigenen Kontrollmechanismen versagen. Meine Südstadt hat mit Prof. Dr. Kosuch über ihre Forschung in Kooperation mit dem Landesverband der Alzheimer Gesellschaften NRW e. V. gesprochen.

Angehörige pflegen – neben schönen Momenten oft auch starke Belastung

Im Rahmen des Projekts wurde ein Workshop mit pflegenden Angehörigen durchgeführt. Von welchen Belastungen haben die Betroffenen berichtet?
Wenn Menschen versuchen, Normalität zu bewahren, kann das zu einer inneren Belastung führen. Ein weiterer Punkt ist, dass pflegende Angehörige auch angesichts der Krankheitsfolgen die Gelassenheit verlieren können – im Hinblick auf die allmähliche Veränderung, die zum Beispiel mit einer Demenzerkrankung einhergeht. Eine andere Belastung ist das, was wir „herausfordernde Verhaltensweisen“ nennen. Dieses Zermürbende, wenn die an Alzheimer erkrankte Person beispielsweise ständig dieselben Fragen wiederholt. Aber auch Kränkungserfahrungen zählen dazu. Eine weitere Quelle von Belastungen sind Selbstvorwürfe. Auch das ständige Zweifeln daran, ob man das Richtige tut, kann erschwerend hinzukommen. Und die Hemmung, mit anderen darüber zu sprechen – weil das Thema häufig schambesetzt ist – z.B. wenn pflegende Angehörige sich machtvoll durchgesetzt haben, obwohl sie eigentlich geduldig und liebevoll sein wollten. Die Bedürfnisse der oft geliebten Person erfüllen zu wollen, kann ebenfalls zu einer hohen Belastung führen, insbesondere wenn dabei Rollenkonflikte auftreten. Gut gemeinte Ratschläge aus dem eigenen Umfeld wie „Du musst dich ausruhen, du musst auch mal was für dich tun!“ können den Druck noch zusätzlich erhöhen: „Oh Gott, jetzt muss es mir auch noch gelingen, mein eigenes Leben weiterzuführen!“ In der Gelassenheitsforschung, der Introvision, nennen wir so etwas einen Imperativ-Imperativ-Konflikt: wenn zwei emotional aufgeladene Ansprüche gegeneinanderstehen und, egal wie ich es mache, es nicht richtig ist. Durch fortgesetzte innere Konflikte wie diese gerät vor allem die Selbstfürsorge leicht aus dem Blick.

Woran merken Betroffene, dass sie an Belastungsgrenzen geraten? Was sind Warnsignale?
Es gibt Warnzeichen, die übereinstimmend in verschiedensten Studien gefunden wurden. Beispielsweise Schlafstörungen, innere Unruhe, Niedergeschlagenheit, Gereiztheit, Schuldgefühle, Gedanken der Sinnlosigkeit, aber auch körperliche Symptome wie Herzkreislauf- oder Magendarmprobleme, Rücken- oder Kopfschmerzen, – all solche Erschöpfungssymptome bis hin zu Erschöpfungsdepression.
In unserer Begleitforschung sind wir darauf gestoßen, dass auch mangelnde Gelassenheit ein solches Warnsignal für Belastungen darstellen kann – und diese sogar noch zusätzlich steigern können. Ein Teilnehmer nannte den Begriff „Kränkungsknopf“. Wenn ihr „Kränkungsknopf“ gedrückt wird, spüren Betroffene mangelnde Gelassenheit, die damit einhergeht. Interessanterweise führen Mutsätze wie „Du schaffst das!“ nicht unbedingt zu mehr Gelassenheit. Man würde vielleicht meinen, dass es hilfreich ist, wenn sich jemand diese Selbstermutigungssätze zuspricht – sie können aber auch zu inneren Antreibern werden und das, was jemand innerlich erlebt, überschreiben und so zu einer noch höheren Anspannung führen.
Die Gelassenheit ist dann selbst verordnet, wird also nicht wirklich gefühlt und erhöht die Anspannung noch. Gelassenheit bedeutet nämlich, die Pflege- und Betreuungssituation weder schönzureden oder zu verharmlosen, noch sie zu dramatisieren und sich hineinzusteigern. Es bedeutet, eigene Gefühle vor sich selbst eingestehen zu können, denn der Versuch, unerschütterlich zu sein, kann sogar den Verlust von Empathie für sich selbst und den Menschen mit Demenz zur Folge haben.
Auch Unterstützungsstrukturen reduzieren diese Belastung nicht vollständig. Natürlich tragen sie dazu bei, sie sind aber keine Garantie dafür. Mit anderen Worten: Das Ausmaß der Gelassenheit nimmt nicht automatisch mit zunehmender Unterstützung zu.

Oft unter Druck und nicht immer gelassen – pflegende Angehörige

Wie kann das Gelassenheits-Barometer pflegenden Angehörigen helfen? An wen richtet sich das Instrument?
Zum einen kann es sehr hilfreich sein, um zu verstehen, welche mentalen Prozesse zum Verlust der Gelassenheit führen. Zum anderen geht es um Sensibilisierung: Den Unterschied zu bemerken, wie ich die Dinge erlebe, wenn ich gelassen bin und wie ich sie erlebe, wenn ich das nicht bin. Das Selbstreflexionsinstrument arbeitet durch die Gegenüberstellung dieser beiden Dimensionen.
Das Barometer arbeitet mit Aussagen wie: „Ich konnte die Situation so nehmen, wie sie ist.“ Oder: „Als ich meine Gelassenheit verloren habe, konnte ich auch das für den Moment annehmen.“ Das verweist auf eine Paradoxie: Es geht nicht um klassische Selbstverbesserung, wie ich noch besser funktionieren oder mich weiter optimieren kann. Das Paradoxe an Gelassenheit ist, dass es oft umgekehrt ist: Anerkennen, dass es nicht optimal gelaufen ist oder ich nicht gut drauf bin – und dann kann ich weitergehen.

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Ganz wichtig ist mir an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass der Einsatz des Gelassenheits-Barometers nicht unmittelbar dazu führt, dass es einem besser geht mit Pflege und Betreuung. In so einem Anspruch liegt auch eine Gefahr, nämlich dass pflegende Angehörige sich noch zusätzlich unter Druck setzen: „Das auch noch – jetzt sollen wir auch noch lernen, gelassen zu werden!“ Ich würde eher sagen, dass sich die Erkenntnisse unseres Projekts an diejenigen richten, die diesen Menschen Begleitungs- und Entlastungsangebote machen.
Kernbestandteil solcher Angebote sollte es auch sein, rechtliche Informationen, Wissen um Unterstützungsmöglichkeiten und Angebote zum Umgang mit der Betreuungs- und Pflegesituation miteinander zu verschränken nicht getrennt voneinander zu behandeln. Durch die Verbindung dieser drei Aspekte könnten Beratung und Fortbildung schamsensibler und niedrigschwelliger werden und in der Folge mehr angenommen werden.

Würden Sie sagen, dass das Thema Gelassenheit in der häuslichen Pflege durch die Corona-Pandemie noch einmal mehr an Bedeutung gewonnen hat? Weil die Auswirkungen der Corona-Pandemie bei pflegenden Angehörigen für zusätzliche Herausforderungen und Belastungen sorgt?
Unbedingt – ich finde das ein ganz schwieriges Thema, dass Betroffene damit oft alleingelassen sind. Die Corona-Pandemie wirkt doch wie ein Brennglas. Selbst gut funktionierende Familien machen die Erfahrung, dass sie es manchmal kaum mehr miteinander aushalten können, wobei Eltern ja der Gedanke helfen kann, dass ihre Kinder zunehmend autonomer werden. Wenn also selbst da die Belastungen deutlich zugenommen haben, können wir uns vorstellen, was es bedeutet, während der Corona-Pandemie einen Menschen zu begleiten, bei dem die Entwicklung nicht zu mehr Selbstständigkeit führt, im Gegenteil. Zudem entsteht der vielbeschworene „gute Abstand“ zu Pflege und Begleitung ja auch, indem ich zeitweise an jemand anderes abgeben und rausgehen kann. Diese Ausgestaltungsmöglichkeiten sind jetzt viel begrenzter. Die Art und Weise der mentalen Verarbeitung der Situation und die Förderung
von Gelassenheit wird sicherlich bedeutsamer.

Prof. Dr. Renate Kosuch von der TH Köln, Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften

Die pflegenden Angehörigen wurden als Expert*innen in eigener Sache befragt – welche Tipps und Tricks lassen sich daraus gewinnen? Was hat den Betroffenen geholfen, Gelassenheit zu bewahren oder zurückzugewinnen?
Wir konnten viele ermutigende Erfahrungen zusammentragen. Als hilfreich wurden beispielsweise Strukturen und Rituale im Alltag genannt, oder sich Freiräume schaffen durch das gezielte Aufsuchen der Natur. Einige nannten auch „Momente einer klaren und wertungsfreien Sicht auf die aktuelle Lebenssituation“. Und in solchen Momenten mit dem erkrankten Menschen nah beieinander zu sein.
Als hilfreich geschildert wurde auch, öfter kurz innezuhalten und in die Ferne schauen. Diese Strategie kennen wir auch aus der Introvision: Wenn ich in einen Tunnelblick gerate, erlebe ich eine Situation verengt und kann auf mein Repertoire an Handlungsmöglichkeiten und Ideen nicht zurückgreifen. Deshalb hilft es, ab und an den Blick weitzustellen oder zu spüren, wie die Füße den Boden berühren. Von so einem „Tunnelblick“ erzählte eine Befragte. Sie beschrieb das als „Kopfkino“, das ablaufe, sobald neue Anzeichen fortschreitender Demenz bei ihrer Angehörigen bemerkbar werden – „Was passiert jetzt? Wird das permanent so? Ist das nur einmalig?“ Sie berichtete davon, dass sie sich in solchen Momenten darauf konzentriert, anzuerkennen, dass sie nicht in die Zukunft schauen kann. Statt also der sorgevollen Dramatisierung im „Kopfkino“ zu folgen, erinnern sie sich selbst: „Okay, jetzt ist es gerade so wie es ist, und ich kenne den genauen Verlauf gar nicht.“
Interessanterweise stimmen viele der Aspekte, die aus dem Erfahrungsschatz pflegender Angehöriger stammen, mit dem überein, was wir auch in einer Gelassenheitsschulung machen würden. Es gab also eine ganze Menge kostbarer Erfahrungen, die genannt wurden. Ich finde das wirklich ermutigend, was pflegende Angehörige für sich entwickeln, um Gelassenheit zu bewahren oder wiederzugewinnen. Diese positiven Erfahrungen zukünftig mehr in den Blick zu nehmen und mit den Erkenntnissen aus Stress- und Gelassenheitsforschung zusammenzuführen – das wäre sicherlich ein Gewinn für Betroffene.

Frau Prof. Dr. Kosuch, wir danken Ihnen sehr herzlich für das Gespräch.

Wenn Sie Interesse haben, das Gelassenheits-Barometer einmal selbst auszuprobieren, finden Sie den Fragebogen über die TH Köln.
Auch einen Reader zum Thema, den Wissenschaftler erarbeitet haben, finden Sie über die angewandten Sozialwissenschaften der TH in der Südstadt.

Gesprächsgruppen und Informationsangebote
Im Severinsklösterchen findet regelmäßig ein Gesprächskreis für pflegende Angehörige statt. Melden Sie sich bei Interesse bei Claudia Enger per E-Mail (cenger@severinskloesterchen.de) oder unter der Telefonnummer 0221 / 3308 – 5010.
Eine Auflistung von Gesprächsgruppen in Köln finden Sie auf dieser Website: https://www.selbsthilfekoeln.de/content/e2591/e2996/index_ger.html
Wer sich während der Corona-Pandemie lieber digital mit anderen Betroffenen austauschen möchte, kann die App „in.kontakt“ nutzen, die Informationen und Vernetzungsmöglichkeiten für pflegende Angehörige bietet (https://www.wir-pflegen.net/helfen/in-kontakt-app-fuer-pflegende-angehoerige).
Die Website https://www.pflegewegweiser-nrw.de/ bietet eine Übersicht, an welche Seniorenberatungsstellen oder allgemeine Beratungsstellen sich Betroffene/Interessierte wenden können.

Text: Isabell Knief

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