Schwarze Milch oder: Klassenfahrt nach Auschwitz
Samstag, 12. März 2011 | Text: Stephan Martin Meyer | Bild: Meyer Originals
Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten
In O?wi?cim leben Menschen. Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche, Erwachsene und Alte. Es ist schließlich eine normale Stadt mit 40.000 Einwohnern im Süden Polens. Der bittere Beigeschmack stellt sich erst ein, wenn man den deutschen Namen der Stadt kennt: Auschwitz. Doch Tomasz versteht sowieso nicht, warum die Deutschen den polnischen Städten andere Namen geben als die Polen. Tomasz ist Polizist. Er verhaftet keine Drogendealer, er hat noch nie seine Waffe ziehen, geschweige denn damit schießen müssen. Denn er arbeitet auf der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Es ist seine Aufgabe, auf die Idioten acht zu geben, die die Wände und Mauern mit Hakenkreuzen verunzieren.
Auch in Neuss leben Menschen, ganz normale Menschen. Thomas zum Beispiel. Er existiert in einer Zwischenwelt: Er gehört nicht zu den Coolen, er gehört nicht zu den Nerds. Freunde hat er im Grunde nicht. Kein Wunder also, dass er irgendwann auf Dieter traf, der ihm eintrichterte, die Deutschen sollten wieder Stolz auf ihre Errungenschaften und die Ideale ihrer Großväter entwickeln. Und im Grunde mag Thomas auch den kahlen Schädel, den er sich von Dieter rasieren ließ.
Die Klassenfahrt nach Auschwitz hat sich Thomas anders vorgestellt. Irgendwie hat er bei dem Namen an Schwitzen und Sauna gedacht. Aber das, was er in dem südpolnischen Städtchen zu sehen und zu hören bekommt, verändert sein Weltbild radikal. Er sondert sich ab, verbrennt seinen deutschen Pass und weigert sich von Stund an, Deutsch zu sprechen. Die Scham über das, was im Schatten deutscher Sprache geschehen ist, lässt ihn verstummen. Daran kann auch Tomasz, der ihn auf dem Gelände aufgreift, zunächst nichts ändern.
Rebecca Madita Hundt, David Adlhoch in Szene.
Zwei Menschen sind miteinander konfrontiert, die beide voller Vorurteile sind. Sie wissen darum, sie wollen sie ausräumen, doch die Sprachlosigkeit ob der Schrecken der Vergangenheit verhindert den so wohltuenden Austausch. Erst als Tomasz aus O?wi?cim sein Herz öffnet, seine Geschichte erzählt, findet auch Thomas aus Neuss wieder Worte für das, was ihn beschäftigt. Die zwei so unterschiedlichen Charaktere freunden sich in der engen Welt einer Polizeistation neben dem Gelände der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau miteinander an.
Dramaturgisch ist die langsame Durchdringung des Stücks mit Informationen gut gelöst: Tomasz´ Tochter findet das Tagebuch ihrer Urgroßmutter, die seinerzeit von einem deutschen KZ-Aufseher vergewaltigt wurde und sich danach das Leben nahm. Sie liest immer wieder Passagen daraus vor. Erst sind es die normalen Aufzeichnungen einer Sechzehnjährigen: Der Wunsch, einen liebevollen Jungen kennen zu lernen, der erste Kuss und die Verzückungen der ersten Liebe. Doch als sie sich in Peter verliebt, der als Aufseher im KZ arbeitet, verhärtet sich die Stimme der Lesenden Urenkelin. Der Schock der Vergewaltigung ist auch über drei Generationen ungebremst spürbar. Betroffenheit überschattet die Situation von beiden Seiten.
„Schwarze Milch“ unternimmt den Versuch, das Dilemma zu überwinden, in dem sich der deutsche Roman, der deutsche Film und das deutsche Bühnenstück befinden: Die Themen der Vergangenheit, vor allem der Genozid an sechs Millionen europäischen Juden, Sinti und Roma, der Mord an Tausenden Schwulen, Kommunisten und politisch Andersdenkenden soll, nein: muss immer wieder aufgegriffen werden. Doch wie sollen diese Schrecken einer Generation vermittelt werden, deren Großeltern im oder bereits nach dem Krieg geboren wurden? Die niemanden mehr persönlich kennen, der ihnen von der Zeit berichten kann? Die Ereignisse des Nationalsozialismus erscheinen ihnen plötzlich ebenso weit entfernt wie die Hexenverbrennungen des Mittelalters.
Holger Schober schafft Nähe zur Geschichte. Sein Stück geht nicht im Betroffenheitsdusel unter, sondern holt die Menschen, die Jugendlichen dort ab, wo sie stehen: in der Welt der eigenen Probleme, die sich um die erste große Liebe dreht, um Klassenfahrten und um Auseinandersetzungen mit den Eltern. David Adlhoch verkörpert die mit seiner Umwelt auf Kriegsfuß stehende Jugend auf liebevolle Weise. Er lässt seinen Charakter durch die Wirren der Geschichte wandern, sich verirren und gegen Wände rennen. Und er lässt ihn schließlich wieder Fuß fassen. Micha? Nocon steht ihm als Polizist überzeugend zur Seite und lässt spannende Einblicke in das Denken und Fühlen eines Polen im Umgang mit einem deutschen Jungen zu. Und nicht zuletzt stellt Rebecca Madita Hundt das Bindeglied zwischen den beiden dar: Als Tochter des Polizisten nimmt sie die Fäden nach und nach auf, um schließlich gegen Ende mit der sich anbahnenden zarten Verbindung zu Thomas die Leichtigkeit der Gegenwart zu verkörpern.
Weitere Termine:
1. April. 11 + 19 Uhr
2.+3. April 19 Uhr
4. April 11 Uhr
25. Mai 11 + 19 Uhr
26. Mai 11 Uhr
Vondelstraße 4-8
50677 Köln
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