Sommerblut: Rückblick und Perspektive für Überlebenskämpfer
Dienstag, 18. Juni 2019 | Text: Alida Pisu | Bild: Nathan Dreessen
Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten
Gerade ging das 18. Sommerblut-Kulturfestival zu Ende. Anlass für Festivalleiter Rolf Emmerich, in eine kurze Bilanz zu ziehen. „Das Festival-Thema war in 2019 ja „Glaube“. Wir sind inhaltlich sehr zufrieden, haben unglaubliche Themen bewegt, mit ganz unterschiedlichen Facetten. Wenn ich nur mal an den Eröffnungstag denke, wo wir es am Tanzbrunnen in Kooperation mit dem LVR (Landschaftsverband Rheinland) geschafft haben, mit dem Tag der Begegnung eine Veranstaltung im inklusiven Kulturprogramm zu füllen. Es waren 5.000 Menschen da, das ist schon eine Riesennummer. Das absolute Highlight aber war das Festival der Religionen im Bürgerhaus Stollwerck. Mich hat es unglaublich gefreut, was für eine Leichtigkeit und Offenheit dieser Tag hatte. Und dann waren da auch noch die vielen Eigenproduktionen, insgesamt acht, plus Gastspiele.“
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Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg – DPSG KölnEine der Eigenproduktionen des Festivals ist „Das Mädchen ohne Hände“ der Gruppe Drugland, in der größtenteils Menschen mit langjährigen Drogenerfahrungen mitwirken. Warum macht Ihr eine solche Produktion?
Rolf Emmerich: „Es ist ja der Grundansatz von Sommerblut, dass wir Projekte mit sogenannten Experten des Lebens, auch des Lebens am Rand der Gesellschaft, machen: Geflüchtete, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung usw. In Verbindung mit Profis. Natürlich steckt immer auch der Gedanke dahinter, dass man den Menschen damit eine Perspektive für ihre persönlichen und beruflichen Wege eröffnet. Z.B. sind zwei Leute aus der Gruppe Drugland, die bei der Produktion im letzten Jahr dabei waren, jetzt ins Orga-Team gewechselt. Die Leute kommen aus ihrem Suchtkreislauf raus, einer hat aufgehört zu trinken, eine andere ist von der Droge ins Methadon-Programm gewechselt. Wichtig ist auch: Diese Projekte zeigen wir nicht in Nischen wie Flüchtlingszentren oder Behindertenheimen. Wir zeigen sie an Orten der Hochkultur, z.B. großen Theatern, und gehen da auch Kooperationen ein, z. B. mit dem Freien Werkstatt Theater (fwt).“
Die Produktion „Das Mädchen ohne Hände“ hat mich neugierig gemacht, ich sehe sie mir im fwt an. Dort stehen die Lebensexperten auf der Bühne. Sie sind keine Schauspielprofis, die mit ihrer brillanten Darstellungskunst fesseln. Sie sind Menschen, die vom Leben hart gebeutelt wurden, aber nie aufgehört haben, um dieses Leben zu kämpfen. Und sich mit ihren Geschichten auf die Bühne zu wagen, sich damit auch der Öffentlichkeit auszusetzen, ohne zu wissen, wie die Reaktionen darauf sein werden. Damit fesseln sie.
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LutherkircheIn der Inszenierung „Das Mädchen ohne Hände“ erkunden sie die eigenen schwierigen und schmerzhaften Lebenswege. Die Rahmenhandlung bildet das gleichnamige Grimmsche Märchen, in dem ein Vater seine Tochter an den Teufel verkauft und ihm beide Hände abschlägt, um den eigenen Hals zu retten. Das Kind überlebt, geht aus dem Haus, hat noch mancherlei Prüfung zu bestehen, bis es zum Schluss heißt: „… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ Happy End also. Aber auch ein „märchenhaftes“ Beispiel für die gar nicht so märchenhafte Realität, in der Kinder auch heute noch leben und leiden. Erst in der vergangenen Woche wurden Zahlen veröffentlicht, nach denen Zehntausende Kinder jedes Jahr Opfer von Gewalt und Kindesmissbrauch werden. Hinter jeder einzelnen Zahl steht ein erschütterndes Schicksal.
Spürbarer Schmerz
Beispiel dafür mag die Geschichte sein, die Sukia Lawalata erzählt. Das Mädchen, das in seiner Familie einer Eiseskälte ausgesetzt war, die es irgendwann nicht mehr ertragen konnte, so dass es von zu Hause fortlief, womit das Elend seinen Lauf nahm. Gewalterfahrung, Drogensucht, Schwangerschaft. Das Baby wird zur Mutter gegeben. Das Mädchen: Wenn man in Lawalatas Gesicht sieht, in dem es zuckt und arbeitet, weiß man, dass sie selbst dieses Mädchen gewesen ist. Und man möchte sie unwillkürlich beschützen, in den Arm nehmen und trösten. Denn ihr Schmerz ist fast am eigenen Leib zu spüren.
Alle erzählten Lebensgeschichten haben mit Gewalt und Drogen, mit Abhängigkeiten, Ohnmacht und immer wieder Kämpfen zu tun. Gegen die Umstände. Gegen die Sucht. Für das bisschen Leben, das man hat. Für das Kind, das auf die Welt kommt und für das man Verantwortung übernimmt.
Nach der Vorstellung nutze ich die Gelegenheit zu fragen: „War es schwierig für Sie, sich mit der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen?“
Sukia Lawalata: „Es war sehr emotional, hat sehr viel aufgewühlt. Aber es war auch gut, damit ich es verarbeitet bekomme und vielleicht auch loslassen kann. Denn im Endeffekt ist es bei mir ja gut gelaufen.“
Anders Michael Gartmann: „War für mich gar kein Problem, weil ich ein offener Mensch bin. Ich hatte ganz krasse Einschnitte, aber das Leben muss ja weitergehen. Durch meine Tochter habe ich mich auch verändert, bin stärker geworden und zeige ihr jetzt: Ich kann auch anders.“
Ja, sie können auch anders und mein Respekt ist ihnen sicher!
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