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Gesellschaft Kultur

Tagebuch eines Brasilianers im Süden – 1.Tag

Montag, 14. Juni 2010 | Text: Gastbeitrag | Bild: Ernesto Solis

Geschätzte Lesezeit: 2 Minuten

Das „MEINE SÜDSTADT“-Team schlug mir vor, ein Tagebuch über die Südstadt zu schreiben, um meine Eindrücke als ausländischer Gast zu erzählen! Eine riskante Aufgabe, wenn man bedenkt, dass ich weder ein erfahrener Schreiber bin, noch ein Wort Deutsch sprechen kann. Also ich bin ein Voyeur, beinahe stumm, gehe verloren durch die Straßen… mal schauen, was alles so passiert!

Ich beschließe, es zu versuchen, setze mich ins El Greco am Ubierring – eine etwas kitschige Bar, nicht modern und durchgestylt wie viele andere. Die Kellnerin, die mich bedient, hat ausdrucksstarke schwarze Augen. Kommt sie etwa aus Arabien? Um 13 Uhr ist ist das Café praktisch leer, eine Gruppe älterer Damen, so um die 60, sitzen lärmend am Nebentisch. Nach dem zweiten Kölsch fällt das Schreiben leichter. Ich muss gestehen, dass ich gar keine Ahnung von diesem Viertel habe. Welche Art von Menschen wohnen hier? Gibt es Reiche und Arme, Immigranten, Kriminalität oder irgend welche Spannungen? Oder ist es ein ruhiges, von der Mittelschicht dominiertes Viertel, wie es aussieht.

 

Was für ein Unterschied zu Botafogo, wo ich lebe. Botafogo ist ein Viertel in Rio de Janeiro, malerisch zwischen zwei Bergen gelegen, wo hauptsächlich die wohl situierte Mittelschicht wohnt. Auf den Bergen sind große Favelas (brasilianisch für Armutsviertel) zu sehen. Ich erinnere mich daran, als letztes Jahr die Drogengangs von der „Rocinha“ die Favela „Tabajara“ eingenommen haben, um die strategisch wichtigen Drogenverkaufstellen zu erobern. Von meiner Wohnung, weniger als 500 Meter entfernt, konnte ich die Explosionen der Granaten und Maschinengewehrsalven hören, als säße ich in der erste Reihe. Wenn man sich erst mal an die vielen Bettler auf den Straßen, den monotonen Straßenlärm, die um jeden Quadratzentimeter Bürgersteig kämpfenden illegalen Straßenhändler, die mörderischen Busse gewöhnt hat, dann kann man auch dort ohne größere Überraschungen leben. Botafogo hat eine Menge Freizeitangebote, viele Kneipen mit Musik aller Richtungen, Clubs, Diskoteken, Kinos und Restaurants – das heißt das typische Chaos einer Großstadt. Im Grunde müssen alle die, die dort leben, verrückt sein – ich eingeschlossen.

Gerade höre ich „Bee Gees“ im El Greco und kehre mit meinen Gedanken in die Südstadt zurück. Am anderen Tisch sitzt nun eine neue Gruppe von Frauen, um zwanzig Jahre verjüngt  – 40 plus – Blondinen, Brünette, sehr schick heraus geputzt, mit blondierten und geglätteten Haaren. Sie schauen mich flüchtig an, ich verstehe kein Wort von dem, was sie reden, wahrscheinlich reden sie über die gleichen Themen wie Frauen um die 40 mit blondierten und geglätteten Haaren in Brasilien.

 

Was mich als erstes hier beeindruckt hat, sind die Parks. Sie sind wunderschön! Dort in Rio haben wir „wilde Natur“. Einen gepflegeten Park zu finden, der nicht bereits von Obdachlosen besetzt ist und einen Zustand der absoluten Verwahrlosung angenommen hat, ist beinahe unmöglich. Am Samstag und Sonntag bin ich den ganzen Tag mit den Fahrrad in der Südstadt unterwegs gewesen. Habe die entspannten Menschen in den Parks gesehen. Habe alle die verschiedenen Formen von Grünstreifen angeschaut. Wunderschöne große, starke Bäume voller singender Vögel und sogar relaxed umher hüpfende Kaninchen, die schwungvoll mit schamlosem Gesichtsausdruck ihr Stummelschwänzchen bewegten. Mich überkam ein merkwürdiges Gefühl der Sicherheit, ganz ohne die latente, mir aus Botafogo so bekannte allgegenwärtige Bedrohung! In Rio man kann sich zwar entspannt am Strand niederlegen, um auf den Ozean zu blicken, man spürt aber eine ständige Bedrohung in der Luft.

 

Ernesto Solis

 

 

Lesen Sie auch die andere Folgen von „Ein Brasilianer im Süden“

Teil 2 / Teil 3/ Teil 4/ Teil 5/ Teil 6/ Teil 7/ Teil 8

 

Interview mit Ernesto Solis: Von der Copacabana zum Rheinauhafen

Text: Gastbeitrag

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