Tagebuch eines Brasilianers im Süden – Teil 2
Donnerstag, 17. Juni 2010 | Text: Gastbeitrag | Bild: Ernesto Solis
Geschätzte Lesezeit: 2 Minuten
Ich sitze bei L´apparte und versuche ein neues Kapitel meines Tagebuchs zu schreiben. Gerade höre ich etwas wie „The Verve“, oder so etwas ähnliches, eine RockBand wie sie zu Tausenden auftauchen und wieder verschwinden, wahrscheinlich haben alle die gleiche Schule besucht. Das Bistro ist cool, eine schöne Orchidee steht auf meinem Tisch. In den Kneipen von Botafogo sehe ich eher Fliegen, Kakerlaken und Tauben die auf die Reste warten.
In meiner Tasche habe ich ein Buch von Freud und eins von Bukowski, der eine zog sich gerne eine Line, der andere trank bis zum Abwinken und trotzdem waren beide sehr geistesklar. Ich denke darüber nach, über die Geistesklarheit oder das Fehlen derselben und muss an zwei Erfahrungen, die ich mit Frauen der Südstadt hatte, denken.
Als ich in einem der prachtvollen Parks umher schweifte und ein paar Fotos schießen wollte, traf ich ein kleines Mädchen, dass auf seinem blonden Kopf einen Winkingerhelm trug und dessen tiefblaue Augen mich anstrahlten. Mein erster Implus war: Ich muss ein Foto machen, doch bevor ich überhaupt auf den Auslöser gedrückt hatte, schoss eine wutentbrannte, wild gestikulierende und deutsche Sätze im Maschienengewehrstakato feuernde Frau auf mich zu.
Diese Sätze brauchten keine Übersetzung! Mit meinem rudimentären Englisch stotterte ich, mich immer wiederholend No Foto! Denoch entriss sie mir die Kamera und blätterte meine Bilder durch. Ich fühlte mich fürchterlich, wie ein Päderrast, der Fotos von kleinen Kindern, zur eigenen Befriedigung macht. Ich bin verurteilt worden ohne das Recht mich zu verteidigen. Ich konnte schon die POLIZEI sehen, wie sie mich gefesselt zur nächste Wache mitschleppt. Ich sah mich schon in einer deutschen Zelle mit riesigen deutschen Sträflingen sitzen, ohne die Möglichkeit das Missverständnis aufzuklären. Selbstverständlich verstehe ich die Sorge der Mutter. In unserer unsichern Welt ist Vorsicht die Mutter der Porzellankiste, aber diese Reaktion war eher paranoid und ihre Aggressivität ist durch nichts zu rechtfertigen. Ich bin nur ein harmloser Tourist der Bäume und Kaninchen fotografiert. Was machen wohl all die deutschen Mütter, die nach Bahia fahren und unsere kleinen, großäugigen, süßen Kindern sehen? Können sie da widerstehen ein Foto zu machen?
Die zweite Frau, deren Name ich bis jetzt nicht aussprechen kann, kling irgendwie wie KBGHAMNR, hat mich von einer Party mitgenommen und zu Freunden gebracht. Sie sagte sie müsse mir die Augen zubinden, denn das Haus sei ein geheimer Treffpunkt! Das fand ich spannend!
Mit ihrem, diesem MUND, hätte sie mich auch in die Hölle bitten können, ich wäre eingetreten, also traten wir ein. Das geheime Treffen entpuppte sich als gemeinsames Musik hören und palavern unter Freunden. Sie führte mich in ein kleines, schmutziges Zimmer, schaute mich mit einem befremdlichen Geschichtsausdruck an und meinte sie müsse ETWAS mit mir machen und ich sollte es ohne nachzufragen zulassen. Sie wollte meinen Bart abschneiden! Als Belohnung wollte sie mir das Gesicht ablecken. In meinen drei Wochen Deutschland hatte mir noch niemand das Gesicht abgeleckt. In Brasilien auch nicht. Also ließ ich es geschehen. Aus ihrer Tasche zog sie eine alte, verrostete Klinge und befahl mir die Augen zuschließen. Während der Prozedur sollte ich ein Mantra aufsagen. Ich rezitierte mein Mantra, während die rostige Klinge die Haare meines Gesichts abschälte. Nach eine Weile fiel ich in Trance. Wie? Ich weis nicht wie lang ich da sass, aber als ich die Augen aufmachte, war die Frau mit dem unaussprechlichen Name weg. Sie liess mich dort ohne Bart, in eine unbekannten Wohnung und ohne abgelecktes Gesicht. Vielleicht gehört sie einer Gruppe radikaler Feministinnen an, die Männer beleidigen wollen, in dem sie ihnen den Bart abschneiden. Trotzdem hatte ich Glück am Leben zu sein, sie hätte mir die Kehle durchschneiden können.
Im L`apparte höre ich jetzt Morcheeba und auf der Straße ist alles in Ordnung und schön. Nun weiß ich, dass sich hinter dieser ganzen Ordnung eine gewisse Portion Paranoidität und Verrücktheit versteckt. Die Orchideen lächeln mich an.
Ernesto Solis
Lesen Sie auch die andere Folgen von „Ein Brasilianer im Süden“
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