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Gesellschaft Kultur

Tagebuch eines Brasilianers im Süden – Teil 3

Mittwoch, 23. Juni 2010 | Text: Gastbeitrag | Bild: Ernesto Solis

Geschätzte Lesezeit: 2 Minuten

In den letzten Tagen hat sich bei mir eine neue Routine ausgebildet. Morgens früh gehe ich aus dem Haus auf der Suche nach einem Café, in dem ich dann einige Stunden schreibend verbringe. Für meine Suche setzte ich mich am liebsten aufs Fahrrad. Entweder fahre ich Richtung Rhein auf dem Ubierring oder in die andere Richtung, über den Sachsenring bis zur Eifelstraße, dann zum Volksgarten bis zum Eifelplatz. Am Eifelplatz gibt es das “La Teca” und nebenan das “Climax”, beide sind sehr angenehm, aber ich bevorzuge das “La Teca” wegen der einfachen und ursprünglicheren Atmosphäre. Die Wahl für ein Café zu treffen, in dem man einige Stunden verbringen will, ist gar nicht so einfach, wie man das denkt, vor allem wenn man alleine ist.

Und da ich schon von Einsamkeit rede, letztens habe ich einen Bettler am Chlodwigplatz gesehen und Bettler verstehen etwas vom Alleinsein und der Einsamkeit. Nach dieser ersten Begegnung habe viele andere gesehen, aber dieser erste hat mich sehr verwirrt. Diese Szene hatte etwas Surreales an sich, etwas Künstliches. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Südstadt ein geplantes Produkt, eine Fälschung oder Inszenierung ist, als hätte ein Bühnenbildner das Ganze inszeniert und dabei gedacht „hier muss ich eine kleine Störung einbauen, damit das ganze nicht so künstlich aussieht, dann besorgen wir uns jemand aus Südamerika oder aus dem Ostblock“!

Beim Vorbeigehen habe ich in seinen Becher eine Münze geworfen und er sagte etwas in dieser Sprache, die ihr sprecht. Daraufhin antwortete ich: „Ich bin Ausländer“, und er fragte mich auf Englisch woher ich käme! “Aus Brasilien” erwiderte ich und er begann in beinahe akzentfreiem Spanisch sich mit mir zu unterhalten! Später erfuhr ich, dass er fünf Sprachen spricht. Natürlich musste ein deutscher Bettler polyglott sein! Es war beschämend, denn ich spreche nur zwei Sprachen.
Ich wollte mehr über ihn wissen. “Ist das ein Interview? Zwei Euro“. Ich warf zwei Euro in seinen Becher und er erzählte, er käme aus der ehemaligen DDR und sagte dass er noch an den Kommunismus glaube – was ich bezweifle – er hätte schon viel Geld verdient, einen guten Job und einen nagelneuen Mercedes Benz gehabt! Der verarscht mich, dachte ich so bei mir.  „Wie bist du hier gelandet?!“ „Noch zwei Euro.“ Das alte Lied vom persönlichen und beruflichen Scheitern, das ihn erst zum Alkoholismus führte und letztendlich zerstörte. Wahrscheinlich war mehr die Enttäuschung in der Liebe Schuld an seiner Misere als die beruflichen Fehltritte.

 

In Botafogo laufen die Bettler in Scharen durch die Strassen, die meisten Schwarze und Mulatten, die nie die Möglichkeit hatten, ein Teil der zivilisierten Gesellschaft zu sein. Die Sklaverei wurde 1888 abgeschafft und die Sklaven wurden einfach so auf die Strasse gesetzt ohne jede Kenntnis und Möglichkeit ihr Leben selbständig zu bestreiten. Von heute auf morgen sind aus Sklaven elende Bettler geworden, und das was wir heute auf den Strassen sehen, sind die Enkel und Urenkel dieser weggeworfenen Menschen, und es sind nicht wenige.
Der Fall meines Ex-Millionärs und polyglotten Freundes ist etwas anders und trotzdem die Wiederholung jenes tragischen Scheiterns eines sozialen Individuums. Auch wenn seine Geschichte eher aus der Verweigerung als aus der Unfähigkeit heraus resultiert. Manche Menschen haben es einfach satt das “Spiel”, welches wir als gesellschaftliche Konventionen bezeichnen, mitzuspielen.

Wenn ich am Rhein mit dem Fahrrad fahre und die alten Damen und Herren am Deck der Schiffe beobachte, kann ich die schreckliche Öde in ihren Leben spüren, vielleicht will der Bettler diesem für mich trostlosen Leben entfliehen? Wie auch ich fliehen würde. Häufiger in meinem Leben überkam mich bereits der Wunsch Bettler zu werden und mich aller Dinge zu entledigen, Diogenes, Bettler und Philosoph, dem Alexander der Große alle Wünsche erfüllen wollte. Diogenes verweigerte sich und bat Alexander den Großen, nicht in der Sonne zu stehen. In Botafogo ist die Konkurrenz für Diogenes und Co sehr groß, hier in der Südstadt scheint sie ein gutes Geschäft zu sein. Vielleicht..
 

Text und Bild: Ernesto Solis

 

 

Lesen Sie auch die andere Folgen von „Ein Brasilianer im Süden“

Teil 1/ Teil 2 / Teil 4/ Teil 5/ Teil 6/ Teil 7/ Teil 8

 

Interview mit Ernesto Solis: Von der Copacabana zum Rheinauhafen
 

Text: Gastbeitrag

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