Tagebuch eines Brasilianers im Süden – Teil 4
Mittwoch, 30. Juni 2010 | Text: Gastbeitrag | Bild: Ernesto Solis
Geschätzte Lesezeit: 2 Minuten
Eigentlich verstehst du gar nichts! – natürlich, das ist keine Neuigkeit nur das habe ich verstanden, bevor sie mir einen Schlag ins Gesicht verpasste. Zum Glück konnte ich gerade noch ausweichen und bekam nur die Hälfte davon ab. Ich habe sie gerade an diesem Tag kennengelernt, Brasilien hatte gewonnen und ich wollte eine Sieg-Feier-Runde mit dem Fahrrad drehen. Wollte sehen wie die Leute feiern, wollte selber diesen Sieg feiern. Ich hielt an einer Ampel am Chlodwigplatz ich liebe es an Ampeln zu stehen, vielleicht weil so etwas in Brasilien nicht möglich ist dann fuhr sie bei Rot an mir vorbei, während sie zu einer Freundin auf Spanisch schrie: Pelotuda te veo mañana! – die Freundin bog rechts ab und sie fuhr gerade aus. Ohne nachzudenken habe ich in die Pedale getreten und bin ihren wehenden Haaren gefolgt. Habe Gas gegeben bis ich hinter ihr stand. Es war eine Szene wie aus einem Kinofilm, die braunen Haare im Wind, der Stoff ihrer Kleider schmiegte sich an ihren jungen Körper, die elektrische Spannung, die sie in der Luft hinterließ und der Rest der Sonne durchdrang meine Netzhaut. Warum schafft Gott diese schönen Geschöpfe, die ich nie erreichen werde?, dachte ich mir. Die Ampel schaltete auf Rot, sie hielt an und ich erreichte sie. Erst traute ich mich nicht sie anzusprechen, dann fand ich es kindisch, sie nicht anzusprechen und drehte mich zu ihr um.
Ich verfolge dich – habe ich auf Spanisch gesagt Warum verfolgst du mich?! – Weil ich gehört habe, dass du Spanisch sprichst, weil Brasilien gewonnen hat, weil das Leben so ist und wenn wir nicht etwas Ungewöhnliches machen verwandelt sich unser Leben mit der Zeit in die größte Langeweile! – sie hat gelacht und ich habe ihr die Zähne gezeigt. Nach einigen Wörtern der Vorstellung lud sie mich zu sich ein, sie sagte ihr Wohnung wäre ganz in der Nähe, eine Kommune.
Fünf Minuten später sind wir an einem schönenem alten Haus angelangt. Dort gibt es eine anarchistische und sozialistische Kommune. Ich habe die ideologische Grenze nicht wirklich verstanden, aber ich denke sie kannte sie es selber nicht so genau, was für ein Unterschied macht das auch? De facto sieht es so aus: Alle teilen sich die Aufgaben, Entscheidungen werden zusammen gefällt, sie arbeiten zusammen, kaufen zusammen ein, teilen sich die Badezimmer, solche Sachen . währenddessen studiert sie Tanz, inspiriert und aspiriert, und macht aus der Erde einen wunderbaren Platz zum Leben. Für sie würde ich eine Revolution anfangen, würde die Waffe in die Hand nehmen und die halbe Erde erschießen. Sie nimmt jede Menge Sachen aus ihrem Rucksack, Teedosen, Lebensmittel, nichts ist neu, alles gebraucht. Ich frage was das alles bedeutet, sie sagt das sind ihre Tageseinkünfte und erklärt mir, dass sie Geld aus Wohnungsauflösungen bekommen. Wenn jemand stirbt und keine Verwandten hat oder die Verwandten nicht das Erbe antreten wollen, werden sie beauftragt die Wohnungen leer zu räumen und alles zu entsorgen. Alles was wir nicht brauchen verkaufen wir, sagte sie.
Es ist sehr interessant zu sehen, dass die Toten, die Utopie dieser Gruppe nähren, die Menschen sterben und die Utopie bleibt am Leben! Sie sind gegen den Kapitalismus, dort wo er am besten funktioniert, mit einem Minimum an sozialer Gerechtigkeit. Natürlich hat jedes System Probleme, dennoch im Vergleich zu Brasilien Ich befürchte die einzige Utopie dort ist, am Leben zu bleiben. In Köln können wir noch Utopie spielen und ich bin schon Sozialist geworden und will ihr einen Kuss geben. Sie springt zurück und sagt, ich habe nichts verstanden! Dann schlägt sie mich. – Außerdem habe ich einen Freund! – Aber einen Freund zu haben, ist das nicht etwas sehr Bürgerliches? Sollen wir nicht die bürgerliche Idee der Familie über Bord werfen und die Liebe teilen? – Nun trifft mich der Schlag aufs rechte Auge.
Text und Bild: Ernesto Solis
Lesen Sie auch die andere Folgen von „Ein Brasilianer im Süden“
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