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Gesellschaft

Über den Tellerrand: Widdersdorfer Empörung

Mittwoch, 8. Mai 2019 | Text: Judith Levold | Bild: Elke Tonscheidt

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Am heutigen Mittwoch, den 8. Mai, sendet der WDR abends die Doku #heimatland – ein Film, dessen ARD-Version schon Ende Februar ausgestrahlt wurde. Und zu dem zwei der Film-Autorinnen am 1. März im Magazin der Süddeutschen nochmal nachgelegt hatten. Film und Artikel berühren seitdem viele WiddersdorferInnen nachhaltig. Denn: Die Berichterstattung beschäftigt sich mit so emotionalen Fragen wie denen nach Heimat, Wurzeln, Wir und die anderen, Nachbarschaften u.a. Einiges davon sollte am jungen Stadtteil Widdersdorf, dessen Neubau-Teil mit 7000 neuen BewohnerInnen einst der größte seiner Art in Deutschland war und den Arbeitstitel „Prima Colonia“ trug, illustriert werden. Viele WiddersdorferInnen waren unzufrieden bis empört mit der Darstellung ihres Veedels im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Unsere Autorin Elke Tonscheidt, seit 15 Monaten selbst Widdersdorferin, sprach mit mir über Journalismus, Aufbruch und bauliche Fehlentwicklungen in Städten wie Köln, am Beispiel von Widdersdorf. Denn Elke betont: „Noch immer kommen Leute zu mir und sagen: Mich hat das so erschüttert, ich denke sogar über eine Programmbeschwerde nach…“

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Warum haben sich viele WiddersdorferInnen so aufgeregt?

Also vielen hat nicht gefallen, welche Ausschnitte der Film von Widdersdorf gezeigt hat. Und wie das bei Ausschnitten so ist, sie verengen die Sicht. Aufgeregt haben sich viele, weil sie den Eindruck hatten, dass andere Ausschnitte, die Positives betonten, im Film nicht berücksichtigt wurden.

Zum Beispiel?

Es stimmt einfach nicht, dass „man“ hier seine NachbarInnen nicht kennt, klar wird es Leute geben, die ihre NachbarInnen nicht kennen, aber das ist doch auch erlaubt und überall sonstwo auch der Fall. Und im Grunde ist da sehr viel Nachbarschaft – allein in meinem kleinen Straßenausschnitt leben Leute aus zehn Nationen, die Kinder rennen kreuz und quer durch unsere Haushalte und Gärten, man kann eine Straße voller Kids und Räder und Menschen sehen, man kann sie aber auch leer filmen, wenn man damit etwas illustrieren möchte…

Und Du meinst, die Journalisten von #heimatland wollten etwas illustrieren?

Ja schon, es ging ja um Emotionen, um Heimat, Fremdsein, fehlende Gemeinschaft, Anonymität – und so cool & clean wie gezeigt ist Widdersdorf nicht. Außerdem: Wer mag von außen wirklich beurteilen, auf welche Weise sich Menschen verwurzeln? Gemeinschaftssinn kann sich sehr unterschiedlich ausdrücken. Und da waren ja auch spannende Analysen im Film, von Wissenschaftlern, Politikern usw. zum Thema Heimat, aber die Befragten aus Widdersdorf wurden für ein einseitiges Bild aus dem Viertel im Film angeordnet, ja ich finde: Genutzt. Im SZ-Magazin steht sogar auf dem Titelbild: „Was ein Neubaugebiet in Köln über die Spaltung der deutschen Gesellschaft aussagt“ – ich hab da ein Post It drangeklebt: NIX.

Ich selbst hatte bei den Bildern im Film aus der Vogelperspektive so das Gefühl: Neu-Widdersdorf hat was Lego-mäßiges, so wie die Siedlungen, mit denen Köln gerade gefühlt an jeder freien Ecke überzogen wird. Da warte ich förmlich drauf, dass auch die Parkstadt Süd, hier bei uns im Süden rund um den Großmarkt, so gebaut wird. Das sind doch dann auch bauliche Ursachen, wenn ein Jakobsplatz oder die Wohnstraßen dann so leer und clean rüberkommen wie im Film, oder?

Ja, klar, diese Bauweise KANN Anonymität fördern, umso wichtiger, dass die Menschen sich aktiv was überlegen, wie sie da Leben reinkriegen. Und hier sind natürlich sehr viele neue Wohnungen und Häuser auf einen Schlag neben den alten Dorfkern gebaut worden. Dass das Fronten schaffen KANN, ist klar. Aber ich und viele andere sehen und erleben diese nicht, bei allem Verständnis für ältere Menschen, die sich damit arrangieren müssen. Wir müssen in den Dialog kommen, das baut Ängste ab.

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Du hast den alten Dorfkern erwähnt, den hab ich im Film gar nicht gesehen…

Eben, manche haben schon gespottet: Das Filmteam hat die Kirche nicht gefunden. Und: Zum Beispiel in dem Event-Café an dem „neuen“, leeren Jakobsplatz: Da war das Team, hat aber mit denen, die dort arbeiten, entweder nicht gesprochen oder diese Passagen nicht gezeigt. Das fehlt, da kommt Widdersdorf zu kurz und ich glaube, weil was Bestimmtes abgebildet werden sollte. Man braucht halt auch Zeit, zusammenzuwachsen, auch mit denen, die schon immer im alten Teil von Widdersdorf leben. Wenn Du neu irgendwo hinkommst, dann bist Du ja nicht „gegen“ die Alteingesessenen. Du lernst sie nur langsamer kennen, das dauert. Man richtet sich erst mal mit denen ein, die man sofort trifft: Zum Beispiel bei Familien eben Kitas, Schulen, Sportvereine.

Aber mal konkret, was hat denn der Film NICHT gezeigt, Deiner Ansicht nach?

Ach, da gibt es so vieles: die Dorfgemeinschaft, ein 40jähriger Verein, wo alt und neu zusammen sind; es gibt ein Jugendzentrum, in der Alten Schule – klar, es reicht nicht, aber es gibt eins. Genau wie noch eine alte Dorfkneipe, viele Orte haben gar keine mehr. Und auch die Kirchengemeinden sind total aktiv. Es gibt zum Beispiel im neuen Teil ein Büro für Quartiersmanagement oder die Tafel von „Widdersdorf hilft“ – und vor allem waren viele Teil-Quartiere gar nicht im Bild, immer nur das weiße „Parkviertel“ am Golfclub. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt… Und natürlich gibt es hier Straßenfeste, Sportgruppen, Gemeinschaftsgärten und sonst was. Ich wohne
übrigens in einem knallroten Haus!

Rote Siedlung Bullerbü, Widdersdorf

Ein bisschen wie Bullerbü: Rote Siedlung in Widdersdorf


Widdersdorf

Bloggerin Elke Tonscheidt mit Mann Christoph

Was ist denn die Folge von dem Aufruhr, „Wächst“ Widdersdorf jetzt zusammen?

Könnte passieren, idealerweise. Wir machen jetzt am Freitag den 10. Mai eine große Veranstaltung am Jakobsplatz, zu der ich als Bloggerin wirklich alle, alle, alle einlade. Viele haben sich auch schon gemeldet mit Ideen und Plänen. Das Viertel ist echt unterstützenswert, bei den Leuten ist jetzt nach dem Film das Gefühl gewachsen: Lasst uns noch mehr draus machen! Zum Beispiel hat sich die Krimi-Autorin Ilka Stitz gemeldet, sie wohnt seit 30 Jahren nahe des alten Dorfkerns und macht jetzt hier mit bei der Mobilisierung. Oder ein anderer Widdersdorfer, der Ideen hat, wie man den Autoverkehr mindern könnte und besser Radfahren kann – alles spannende Inputs für eine Weiterentwicklung des Veedels durch uns, seine BewohnerInnen. Und zwar egal, ob Alt- oder Neu-WiddersdorferInnen. Wir wollen gemeinsam die Frage erörtern: Wie wollen wir in Zukunft hier zusammen leben?

Darum geht es ja generell, oder? Dass die, die in einem Viertel leben, sich fragen, wie sie da leben wollen. Und darauf auch Antworten finden, oder? Nutzergetragene Stadtentwicklung nennt man das glaube ich…

Genau, und das machen wir jetzt selbst. Plus: Vor ein paar Tagen rief mich eine Politikerin an und bietet ihre Unterstützung an! Der Film hat so betrachtet enorm viel bewegt – wir haben aus Ärger etwas Positives geschaffen, insofern… Aber, ich bin gespannt wie ein Flitzebogen auf die Ausstrahlung im WDR …

Warum?

… wir hatten ja einen Offenen Brief an den WDR-Intendanten und die Chefredaktion des SZ-Magazins geschrieben, die Antworten waren nicht zufriedenstellend, man blieb fest bei den gemachten Aussagen. Vielleicht haben sie nun ja aber doch auch noch andere Ausschnitte einmontiert, denn gedreht hatten sie viel mehr, als in dem Film zu sehen war. Weitaus mehr Stimmen als die des Ehepaars und seiner Freunde, das sich so fremd im „eigenen“ Widdersdorf fühlte…

Vielen Dank Elke, für diese Eindrücke aus dem Kölner Westen!

Programmtipp im WDR: Mittwoch, 8.Mai, 22:10-23:20h im WDR Fernsehen, diestory/docupy

Text: Judith Levold

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