Voll ins Gemächt
Dienstag, 6. Februar 2018 | Text: Alida Pisu | Bild: Oliver Köhler
Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten
Eigentlich suche ich nur eine Möglichkeit, um mich körperlich fit zu machen. Auf meiner Suche werde ich anders fündig als gedacht, denn ein Selbstverteidigungskurs für Senioren, „Unerschrocken durch das Alter“ weckt mein Interesse. Das Seniorenalter habe ich zwar noch nicht erreicht, aber warum nicht einfach mal ausprobieren, wie man sich seiner Haut wehren kann?
Reine Frauensache
Also gehe ich zur Schnupperstunde im Gemeindesaal der Lutherkirche und werde dort sehr freundlich von Stefan Boigk begrüßt, der am Karolingerring die Karateschule Matsunoki-Karate sowie mit einem Kollegen eine Akademie für Selbstverteidigung betreibt. Er sieht schon mal so aus, wie ich mir einen Karate-Trainer vorgestellt habe: groß, kräftig, drahtig und der Kampfanzug steht ihm richtig gut!
Die Gruppe ist klein, es sind ausschließlich Frauen da. Haben Männer es nicht nötig? Sofort geht es los mit einem Aufwärmtraining. Wir laufen auf der Stelle, vor und zurück, bewegen die einzelnen Gliedmaßen durch. Arme, Ellbogen. Ich sehe genau zu, wie Stefan die Übungen vormacht und versuche, sie möglich exakt nachzumachen. Ist gar nicht so einfach, weil man auf so Vieles achten muss. Ist der Winkel, in dem ich den Ellbogen halte, auch richtig? Als wir die Füße im Wechsel auf einen Stuhl stellen, merke ich, dass der Stuhl verdammt hoch ist. Egal, da muss ich durch.
Es geht weiter mit einem Ball. Wir laufen im Kreis, werfen uns den Ball zu. Stefan: „Lauft und passt auf, dass der Ball nicht hinfällt. Immer gucken, anbieten, die Umgebung im Auge behalten. Das ist jetzt schon Kampfsport. Ich bewege mich in einer Gruppe von Menschen und versuche, alle im Auge zu behalten. Weil irgendeiner von meinen Mitmenschen „einen Angriff“ starten, sprich den Ball werfen wird. Deshalb bin ich aufmerksam, ich will den Ball ja nicht an den Kopf kriegen. Wenn ich aufmerksam wahrnehme, passiert das auch nicht.“
Gefühlt bin ich noch Jahrzehnte von der vollen Aufmerksamkeit entfernt, aber immerhin: ich kriege keinen Ball an den Kopf! Und ich merke auch, was für einen Spaß es macht, sich auf seine Sinne zu konzentrieren, wachsam zu sein und schnell zu reagieren. Auch die Seniorinnen haben ihren Spaß, es wird nicht nur geworfen, es wird auch viel gelacht, selbst dann, wenn der Ball mal fällt.
Bloß nicht helfen!
Wir beginnen mit dem Karate-Training. Stefan: „Linke Faust ist vorne, linker Fuß ist vorne. Kampfstellung. Wir machen einen Fauststoß zum Kopf. Wir gehen mit rechts vor, schlagen mit rechts, atmen aus. Eins. Und stehen. Und zwei.“ Er geht durch die Reihe, zeigt die richtige Handhaltung, erklärt geduldig: „Achtet auf den Daumen. Der Daumen darf nicht in der Faust sein, sonst bricht er und das tut furchtbar weh!“
Wie man einen Angriff abwehrt, lernen wir in der nächsten Übung. Stefan hat sich mit einem Schaumstock bewaffnet, führt einen Schlag gegen mich aus und ich mache genau das, was Stefan gezeigt hatte: rechten Arm vor, einen Block machen, um den Kopf zu schützen. Stefans Schlag prallt gegen meinen Arm. Geht doch, da soll mir mal einer kommen!
Dass man zu einem Angreifer nicht höflich sein darf, ist eigentlich naheliegend, wird von Stefan aber noch mal betont, als eine Seniorin den Schaumstock, den sie ihm aus der Hand geschlagen hatte, wieder aufhebt und ihm gibt: „Du kannst doch dem Angreifer nicht die Waffe wiedergeben!“ „Ich bin eben hilfsbereit.“ „Auch, wenn jemand dich ausrauben will?“ Eine absurde Vorstellung, über die wir herzlich lachen müssen, auch die Seniorin: „Ich kapiere es schon noch.“
Höhepunkt der Schnupperstunde ist die Übung, in der wir lernen, einen – männlichen – Angreifer außer Gefecht zu setzen. Klar: ran an die Stelle, an der es am meisten weh tut. Genau da hat Stefan sich mit einem Schaumstoffkissen bewaffnet. „Packt zu. Entweder an den Ohren. Oder am Kopf oder der Kleidung. Packen. Knie hoch. Und immer daran denken: ein Mann, der einen Schlag in seine Geschlechtsteile kriegt, kommt euch entgegen. Dann kriegt ihr eine Kopfnuss, deshalb: zur Seite! Und jetzt los! Nach vorne kommen und bumm!“
Laut brüllen erlaubt
Wir stellen uns in eine Schlange, als ich an der Reihe bin, renne ich brüllend auf Stefan zu: „Du Sau!“ und trete ihn voll ins Gemächt. Der Tritt hat gesessen, doch die Seniorinnen stehen mir in nichts nach und Stefan ist froh, dass sein Kissen dick genug ist, um die Wucht der Tritte abzufedern. Natürlich üben wir nicht nur einmal und ich brülle immer lauter. Die Seniorinnen lassen sich von meinem Brüllen anstecken, Stefan muss sich üble Beschimpfungen und derbe Tritte gefallen lassen, die er locker wegsteckt. Trotzdem frage ich nach: „Ist es eigentlich richtig, so zu brüllen?“ Stefan: „Ja, unbedingt. Zum einen lasst ihr die Energie raus und habt mehr Kraft. Zum anderen könnte der Angreifer Angst bekommen. Denn er hat es nicht mit einem stillen Opfer zu tun. Ihr werdet dann auch von anderen gehört. So habt ihr die Chance auf Hilfe oder auf jemanden, der Hilfe herbeiruft. Also immer bemerkbar machen.“
Nach der letzten Runde -Packen, Knie hoch- ist meine Entscheidung gefallen: Ich werde dabei bleiben! Beim Selbstverteidigungskurs für Senioren. Macht einfach Spaß, stärkt das Selbstbewusstsein, die Damen sind reizend und Stefan ist ein toller Trainer.
Wer noch mitmachen will, ist laut Stefan willkommen und meldet sich einfach noch an.
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