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Politik

Wir warten weiter auf die Wahrheit

Mittwoch, 2. März 2011 | Text: Doro Hohengarten | Bild: Dirk Gebhardt

Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten

Am Donnerstag vor zwei Jahren um 13:58 Uhr: Das Stadtarchiv stürzt in die Tiefe, reisst sein Nachbarhaus mit sich. Zwei Menschen sterben, 36 verlieren ihr Zuhause. Wo 2000 Jahre Köln-Geschichte einsehbar waren, klafft eine Grube. Feuerwehrleute und freiwillige Helfer ziehen bis heute das Gedächtnis der Stadt aus Schutt und Wasser. Unter besten Bedingungen würde es 30 bis 50 Jahre dauern, bis 95 Prozent der Archivalien restauriert wären. Wie lange muss man in Köln auf die Wahrheit warten?, fragte Stefan Koldehoff vor einem knappen Jahr an dieser Stelle. Wir warten immer noch. Diese Zahl gibt es bereits jetzt: 1.000.000.000 Euro – laut Oberbürgermeister Jürgen Roters der Preis für die Folgen des Archiveinsturzes, geschehen während der Bauarbeiten für die Nord-Süd-Stadtbahn. 

Gestern Abend (Mittwoch) legte Rotes am Ort des Archiveinsturzes im Gedenken an die beiden Opfer des Unglücks (den 17-jährigen  Kevin K. und den 24-jährigen Studenten Khalil G.) Kränze nieder. Die Stadt Köln zog in dieser Woche Bilanz – wir fassen die Fakten und Aussichten zur Lage am Waidmarkt zusammen.

 

Stand der Ermittlungen
Zumindest eines ist sicher: Ohne die U-Bahn-Baustelle Waidmarkt hätte es das Unglück nicht gegeben. Laut Stadtanzeiger gehen „die meisten Gutachter“ davon aus, dass beim Setzen der Schlitzwand, die die Baugrube unter anderem vor Grundwasser schützen soll, in einer Tiefe von 30 Metern ein Loch entstanden ist. Dadurch floss Wasser in die U-Bahn-Grube. Dieses Wasser samt Feinteilen des Erdreichs wurde illegal abgepumpt. So entstand unter der Vorderseite des Archivs ein Hohlraum, in den Gebäude schließlich stürzte, gefolgt vom Nachbargebäude. Doch diese Theorie muss sich erst noch bewahrheiten – vor Gericht.

Die Staatsanwaltschaft gibt keine Auskunft über den Zwischenstand der Ermittlungen. Man müsse, so bestätigte der leitende Oberstaatsanwalt Feld gegenüber „Meine Südstadt“, die Fertigstellung des Besichtigungsbauwerks (s.u.) abwarten, bevor weiter Ursachen geforscht werden kann.

Die Stadt Köln und die KVB hatten unmittelbar nach dem Unglück ein „selbstständiges Beweisverfahren“ gegen die Arbeitsgemeinschaft Nord-Süd Stadtbahn Köln Los Süd erhoben. So ein Verfahren ist dem Hauptverfahren, in dem die Staatsanwaltschaft aktiv ist, vorgeschaltet, es soll den Prozess beschleunigen und die Sicherung von Beweismitteln vorantreiben. Gutachter sollen dabei helfen, die Fragen zu klären: Was ist die Ursache für den Einsturz? Hätte sich das Unglück vermeiden lassen und wenn ja, durch welche Maßnahmen? Liegt ein Verstoß gegen die anerkannten Regeln der Technik vor?

Außerdem will die Stadt in einem ähnlichen Verfahren klären lassen, wie hoch der Schaden beziffert wird. Das Ziel: Schadenersatzforderungen geltend zu machen.
Falls tatsächlich das Leck in der Schlitzwand und das illegale Abpumpen der Grund für den Einsturz gewesen sind, könnte das vor allem für die Baufirma Bilfinger Berger teuer werden: Sie hat die Schlitzwand errichtet. Wer noch verantwortlich ist, z.B. auch für das Abpumpen, muss noch geklärt werden.

Klar ist, dass neben der Bauleitung der beteiligten Unternehmen die Stadt eine gewisse Mitverantwortung an dem Unglück trägt. Die stadteigene KVB, die die Bauaufsicht am Waidmarkt hatte, hat das illegalen Abpumpen von Grundwasser nicht verhindert.

 

Lage der Betroffenen

36 Anwohner der Nachbarhäuser verloren ihre Wohnungen. Die Stadt hat sie in neue Wohnungen umgesiedelt – dort seien sie zwar weitgehend in ihrem neuen Leben angekommen, doch „Ängste sind bei vielen in unterschiedlicher Ausprägung geblieben“. Die psychosozialen Nachsorgeangebote der Feuerwehr nehme heute jedoch keiner der ursprünglich 180 Interessierten mehr wahr. Insgesamt hat die KVB bislang 5,1 Millionen Euro Schadenersatz an die Betroffenen bezahlt. Außerdem hat die Stadt bislang 150.000 Euro Entschädigung für die Beeinträchtigungen durch die laufenden Arbeiten an der Einsturzstelle ausgezahlt.

 

Die Stadt hat außerdem das Gelände eines ehemaligen Nachbargebäudes angekauft, ein zweites Grundstück werde gemeinsam mit dem Eigentümer in eine geplante künftige Bebauung einbezogen.
 

Eine Folge des Archiveinsturzes: Die Severinstraße verfügt jetzt über einen Veedelsmanager, den die Stadt bezahlt. Jörg Aue soll sich für die Belange des Quartiers und der Geschäftswelt auf der Severinstraße einsetzen und ist Ansprechpartner und Verbindungsmann zwischen dem Viertel, KVB und Stadt Köln.
 
Bergungsbauwerk und Besichtigungsbauwerk
Um die Archivalien, die unterhalb des Grundwassers lagen und liegen, zu bergen, wurde 2010 für 13 Millionen Euro das so genannte Bergungsbauwerk errichtet. Es liegt innerhalb des Einsturztrichters unmittelbar an der Schlitzwand des Gleiswechselbauwerks Waidmarkt und besteht aus 63 Bohrpfählen, die bis in rund 30 Meter Tiefe reichen. Die geborgenen Archivalien werden derzeit in einem beheizbaren Versorgungszelt „erstversorgt“ – bislang wurden 500 LKW-Fuhren Schutt und Archivalien aus der Erde geholt.

Ebenso wie beim Bau des Bergungsbauwerks, kommt es auch beim Besichtigungsbauwerk zu Verzögerungen. Durch das Besichtigungsbauwerk erhoffen sich Gutachter und Ermittler Aufschluss über die genaue Einsturzursache: Ein Schacht ermöglicht den Zugang zu dem Loch, das in 30 Metern Tiefe vermutet wird und über das Grundwasser in die Grube eingeflossen sein soll. Doch im Januar wurden im Grundwasser riesige Fundamentkörper des Stadtarchivs entdeckt. Die Schuttteile mit einem geschätzen Gesamtgewicht von 170 Tonnen müssen nun erst einmal von Spezialtauchern zerlegt werden, bevor mit dem Bau begonnen werden kann. Das Besichtigungsbauwerk soll frühestens im Sommer 2012 fertig sein.

Stand der Archivalienbergung

Heute sind 90 Prozent der Bestände geborgen, davon 35 Prozent schwerst beschädigt, 50 Prozent mit schweren und mittleren Schäden und 15 Prozent mit leichten Schäden. Etwa fünf Prozent sind derzeit noch im Grundwasser und sollen noch in diesem Frühjahr geborgen werden. Weitere 5 Prozent sind voraussichtlich vollständig verloren.
 
Die aktuellen Fundstücke, der derzeit noch über das Bergungsbauwerk und mit schwerem Gerät aus dem Grundwasser geholt werden, sind teilweise stark aufgeweicht, aufgequollen und in Stücken, teilweise vollständig im Block und insgesamt gut erhalten. Die Dokumente werden nach Erstsäuberung bei minus 30 Grad Celsius schockgefroren, später unter Vakuum aufgetaut. Bei diesem Vorgang geht das enthaltene Wasser sofort vom festen Zustand (Eis) in den gasförmigen Zustand (Wasserdampf) über. Daran schließt sich dann die weitere Behandlung wie Glätten, Fehlstellen schließen, etc., an. 

In Köln-Porz/Lind errichtet die Stadt derzeit ein eigenes Restaurierungs- und Dokumentationszentrum, das in wenigen Wochen den Betrieb aufnimmt. Seit dem Einsturz des Gebäudes arbeitet das Archiv bundesweit mit 20 Facharchiven zusammen, die das geborgene Archivgut aufgenommen haben. Die Kosten der Restaurierung der Archivalien werden derzeit auf 350 bis 400 Millionen Euro geschätzt. In 30 bis 50 Jahren könnte das Archivgut wieder in gesicherten Zustand für die historische Forschung zugänglich sein, wenn 200 Restauratoren parallel daran arbeiten könnten, so die Schätzung der Experten vom Stadtarchiv.

Gegen die Stadt haben fünf Leihgeber, die dem Archiv Dokumente von historischem Wert übergeben hatten, bei Kölner Gerichten auf Schadenersatz geklagt. Drei Klagen wurden vom Landgericht Köln in erster Instanz abgewiesen, die anderen beiden ruhen derzeit.

Die Lage in den angrenzenden Schulen
Noch immer werden die Schüler des Friedrich-Wilhelm-Gymnasium (FWG) provisorisch im VHS-Gebäude am Neumarkt unterrichtet. Und das wird erstmal auch so bleiben, denn, so die Stadt in ihrer Bilanz: „Der ursprünglich angedachte Fertigstellungstermin, und damit verbunden der Rückzug der Schule zum Schuljahresbeginn 2011/2012, kann aufgrund der örtlichen Gegebenheiten und der auftretenden Schwierigkeiten nicht gehalten werden.“

Offenbar ist das Gebäude noch nicht erdbebensicher genug. Die Fundamente und das statische Tragsystem müssen nachgebessert werden. Auch verlangten die Denkmalschutzauflagen aufwändiges Arbeiten –  die Wärmedämmung könne beispielsweise nur innenliegend angebracht werden könne. Neue Hinweise auf vermutete Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg hätten außerdem dazu geführt, dass nun mobile Bauten versetzt und bisher geplante neue Stützen
geändert werden müssten.  Neuer Termin für die Fertigstellung: Juni 2012.

Der Kaiserin-Augusta-Schule (KAS) hat der Archiveinsturz letztlich zusätzliche Flächen für einen endgültigen Neubau „beschert“. Die Schule leidet unter Platzmangel, seitdem der gebundene Ganztagsunterricht begonnen hat. Inzwischen wurde auf dem Schulhof eine Fertigbaueinheit mit Großküche, geräumiger Mensa und vier Aufenthaltsräumen geschaffen. Zusätzlich werden im April 2011 sechs weitere Klassencontainer am Standort Georgstraße in Betrieb genommen. Um den Raumbedarf der Schule langfristig zu decken, wurden die Planungen für einen Erweiterungsbau aufgenommen – er soll auf dem hinteren Teil des ehemaligen Archiv-Grundstücks entstehen. Zurzeit wird ein Architektenwettbewerb vorbereitet. Mit den Ergebnissen ist Ende des Jahres zu rechnen.

Zukunft des Grundstücks Severinstraße: Bürger können mitbestimmen!
Was passiert mit dem Ort, an dem einst das Stadtarchiv stand? Darüber sollen die Kölner Bürgerinnen und Bürger im Rahmen einer „erweiterten Bürgerbeteiligung“ mitentscheiden. Am Dienstag, 12. April 2011, 19:30 Uhr, findet dazu eine öffentliche Informationsveranstaltung in der Piazzetta des Historischen Rathauses statt. Oberbürgermeister Jürgen Roters und Planungs- und Baudezernent Bernd Streitberger stellen die städtebaulichen Aspekte, die Fragen der zukünftigen Nutzungen der neu zu erstellen Gebäude an der Severinstraße und andere
Aspekte zur Diskussion

 

Entsprechende Schautafeln und Pläne sind vom 12. April 2011 bis zum 21. April 2011 im Rathaus zu sehen. Noch vor den Sommerferien soll ein zweitägiger moderierter Workshop, zu dem bis zu 80 interessierte Bürger eingeladen werden können, Ergebnisse für die weiteren Planungen erarbeiten. 

Zu den städtebaulichen Aspekten und Anforderungen, die an die Flächen des ehemaligen Archivs gestellt werden, gehören:
1. die Erweiterung der Kaiserin-Augusta-Schule am Georgsplatz
2. die Schaffung eines Verbindungswegs zwischen Kaiserin-Augusta-Schule, Severinstraße und Friedrich-Wilhelm-Gymnasium. 
3. Auswahl des Ortes und die Gestaltung des Gedenkens
4. Schließung der städtebaulichen Lücke an der Severinstraße mit der Möglichkeit, im Erdgeschoss Räume für publikumswirksame Nutzungen zu schaffen.

Neubau Historisches Archiv
Im Dezember 2010 hat die Stadt Köln den Architektenwettbewerb für den Neubau des Historischen Archivs am Eifelwall/Luxemburger Straße gestartet. Das Archiv soll dort künftig mit der Kunst- und Museumsbibliothek sowie dem Rheinischen Bildarchiv in einem Gebäudekomplex untergebracht sein. Der Neubau kostet etwa 85 Millionen Euro. In der Vorentscheidung wurden aus 200 Bewerbern 45 Teilnehmer ausgewählt. Das Preisgericht wird am 17./18. Juni 2011 über die Arbeiten entscheiden.

 

Text: Doro Hohengarten

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