WM-Endspiel im Sionstal
Donnerstag, 4. Juli 2024 | Text: Wolfgang Mödder
Geschätzte Lesezeit: 2 Minuten
Am nordöstlichen Ende der Südstadt, zwischen Severinstraße und Rheinuferstraße, liegt die Straße „Im Sionstal“. Anfang der 50er Jahre glich die Ruinenkulisse zwischen Rosenstraße und Landsbergstraße, einem zerklüfteten Gebiss: Völlig zerstörte Häuser wechselten sich ab mit Häusern, die entweder nur noch aus dem Hinter- oder dem Vorderhaus bestanden. Es fehlten ganze Etagen; Treppenhäuser waren dort nicht mehr notwendig, da nur die Erdgeschosse notdürftig als Wohn- oder Geschäftsräume hergerichtet waren.
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Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg – DPSG KölnDer linken Straßenseite war etwas mehr Substanz verblieben, so dass sich hier sehr schnell eine vielfältige Einzelhandelslandschaft ansiedelte. Neben dem Eiscafé Langer befand sich das Kolonialwarengeschäft Simon, eine Schreinerei, ein Milch- und Käsegeschäft, ein Gemüseladen und ein Zigarrengeschäft.
Ladenvielfalt auf kurzer Strecke
Die rechte Straßenseite war fast völlig dem Erdboden gleichgemacht. Neben der provisorisch wiederaufgebauten Federschmiede Roth die elterliche Bäckerei und anschließend eine Ruine, in deren hinterstem Teil ein Schuppen unzerstört geblieben war und deshalb einer Familie für einige Jahre ein Dach über den Köpfen bot. Das folgende Grundstück und der dort provisorisch eingerichtete Verkaufsraum dienten der Familie Waldeck zum Betrieb des zweiten Gemüsegeschäfts im Sionstal. Beide Gemüsegeschäfte trennte nur die Straßenseite, und dennoch konnten damals beide Familien auskömmlich davon leben.
Als letztes großes Grundstück in diesem Kernbereich der Straße, hatte die Familie Nick ein für die damalige Zeit sehr diversifiziertes Kleinimperium an den Start gebracht. Es bestand aus einer Kohlenhandlung, einer Spedition mit einem Lkw und später einer Gaststätte.
Der erste Fernseher im Sionstal
Die Kohlenhandlung nahm in dem Umfang an Umsatz zu, wie der Kohlenklau beziehungsweise das von der Kurie abgesegnete „Fringsen“ zugunsten des legalen Erwerbs von Brennstoffen abnahm. Dieser geschäftliche Erfolg machte es dann auch möglich, dass die Familie Nick als erste und einzige Familie im Sionstal ein Fernsehgerät kaufen konnte. Um dieses von der ganzen Straße bestaunte Gerät versammelte sich dann am 4. Juli 1954 der gesamte männliche Teil der Bevölkerung – auch die, die in den umliegenden Straßen und Gassen wohnte.
Es war der Tag des Endspiels um die Fußballweltmeisterschaft. Es hatte sich in dem kleinen Wohnzimmer, in dem der Fernseher stand, eine unüberschaubare Menschenmenge auf engstem Raum zusammengepfercht. Um die Zuschauerkapazität zu erhöhen, waren aus Brettern und Kisten kleine Tribünen gebaut worden, auf denen vorzugsweise ältere Männer dicht gedrängt Platz fanden. Stehplätze gingen hinaus bis auf den Hof, viele dann auch ohne Blickkontakt zum Fernsehgerät, aber immer noch in Hörweite.
Spannung, dicht gedrängt
Mein Freund Reinhold, genannt „die Wanz«, und ich, „dat kleine Brüdche“, lagen circa 30 cm vom Fernseher entfernt auf dem Boden. Schon das damals obligatorische Testbild wurde lauthals bejubelt, gab es doch schon einmal eine gewisse Sicherheit, dass das neue Gerät auch funktionierte. Als dann auch noch die Eurovisionshymne erklang, steigerte sich die Spannung ins Unerträgliche.
Um es kurz zu machen, steigen wir in dem Moment in das Geschehen ein, als sich Hans Schäfer den Ball erkämpft und Helmut Rahn sich entschließt, aus etwa 17 Metern Entfernung auf das ungarische Tor zu schießen, und sich die damals noch bleischwere regendurchtränkte Lederkugel unhaltbar erst hinter der Linie, knapp neben dem hölzernen Torpfosten, im Netz verfängt.
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Ralph Ley – SteuerberaterIn diesem Augenblick explodierte das kleine Wohnzimmer der Familie Nick. Die provisorischen Tribünen brachen zusammen; zwischen Brettern und Kisten lagen Menschen verschüttet. Es gab keinen Unterschied zwischen den Schreien der grenzenlosen Begeisterung und denen großen Schmerzes durch geprellte Gliedmaßen. Aus dem Fernsehgerät schrie mit sich überschlagender Stimme der Reporter Herbert Zimmermann immer und immer wieder: „Toor, Tooor, Toooor!!!“
Für viele war erst mit diesem Ereignis der Krieg wirklich vorbei. Ein wenig Freude, ein bisschen Stolz und Zuversicht waren zurückgekehrt.
Die ungekürzte Version des Textes findet man neben vielen anderen Südstadt-Geschichten aus der Nachkriegszeit im Buch „Dat kleine Brüdche“ von Wolfgang Mödder. Erhältlich ist das Buch in der Maternus-Buchhandlung in der Severinstraße.
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