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Kultur

Literatur als Simulationsraum: Dieter Wellershoff im Interview (II)

Dienstag, 8. Februar 2011 | Text: Jörg-Christian Schillmöller | Bild: Dirk Gebhardt

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Das Arbeitszimmer von Dieter Wellershoff liegt ganz am Ende der Wohnung in der Mainzer Straße: Ein Bett zum Ausruhen, ein Schreibtisch mit einer orangefarbenen Unterlage, ein kleiner Tisch mit Computer, ein Bücherregal – und davor ein grüner Polsterstuhl mit geschwungenen Armlehnen, auf den der Schriftsteller sich für unser Interview setzt. Ich selbst sitze auf seinem Schreibtischstuhl – und mein Blick fällt durch das Fenster auf… eine schlichte, hohe Hauswand ohne Fenster, links braun verputzt, rechts verklinkert. Dieter Wellershoff war dieser neutrale Blick immer wichtig, damit er nicht vom Schreiben abgelenkt wird. Heute ist der Schriftsteller 85 Jahre alt. Er lebt seit den Siebziger Jahren in der Mainzer Straße, hatte mit seinem Roman „Der Liebeswunsch“ einen großen Erfolg und hat zuletzt „Der Himmel ist kein Ort“ veröffentlicht, einen Roman über einen Landpfarrer, der in eine tiefe Krise gerät.

Herr Wellershoff, wie schreiben Sie ihre Bücher?
Am Anfang eines Buches muss man beschenkt werden. Das ist eine Evidenz, also dass man weiß: Ja, so muss es sein. Da geht es um Gewissheit, um Klarheit, um Aha-Effekte. Dann entwickelt sich ein Bewusstsein dafür, dass sich der Stoff fügt. Ich gehe abends zu spät ins Bett und stehe morgens zu spät auf. Aber wenn ich einmal in Gang bin, dann lasse ich nicht locker.

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Sie kennen also auch Schreibblockaden.
Meinen letzten Roman habe ich anfangs wieder weggelegt, weil ich nicht hineinkam in den Stoff. Fahrrad fahren ist auch gut, dabei kann ich entspannen und nachdenken. Für mich ist immer wichtig gewesen, dass das Leben nun einmal von Krisen geprägt ist. Das ist eine dieser Grunderfahrungen, aus denen ein Romanstoff entsteht. Die Literatur der 68er-Generation war gekennzeichnet von der Maxime, dass nur eine politische Alphabetisierung gut sein kann. Bei mir ist die Literatur dagegen ein Simulationsraum, wo ich die Möglichkeiten des Lebens durchspiele. Sehen Sie, unsere Zukunft ist ja immer ungewiss, und die Literatur ist das Medium, um darauf zu antworten.

Sie waren einst zu Gast bei der legendären „Gruppe 47“ – dort kamen von 1947 bis 1967 auf Einladung von Hans Werner Richter die großen Köpfe der Literatur zusammen: Günter Grass las bei einem der Treffen das erste Kapitel der „Blechtrommel“, Heinrich Böll las „Die schwarzen Schafe“ – und Paul Celan trug seine „Todesfuge“ vor. Wie haben Sie die Treffen der „Gruppe 47“ erlebt?
Ich habe dort einige Male gelesen, 1960 zum Beispiel eines meiner Hörspiele, dafür hätte ich fast den Preis der Gruppe bekommen. Dann habe ich ein experimentelles Prosastück mit dem Titel „Während“ vorgetragen, in dem drei, vier Dinge gleichzeitig laufen. Auch das hat in der Runde einiges Aufsehen erregt. Aber die Gruppe 47 veränderte sich: Die Literatur trat immer mehr als Reiseunternehmen, als Reisezirkus aus, weil die Treffen in den USA oder in Schweden stattfanden. Schließlich gab es nicht mehr nur interne Kritik von den Schriftstellerkollegen: Zu den Treffen wurden auch externe Kritiker eingeladen, Verleger zum Beispiel, oder Kritiker von Zeitungen, das fand ich problematisch. Damit wurde gewissermaßen der Binnenmarkt die entscheidende Instanz.

Sie erwähnten schon eines Ihrer Hörspiele. Insgesamt haben Sie 11 geschrieben bis zum Jahr 1973, danach dann keine mehr. Was bedeutet Ihnen das Hörspiel als Medium?
Also als Student hatte ich schon Erzählungen geschrieben, vom Stil her zwischen Hemingway, Borchert und Böll. Die habe ich irgendwann mal verbrannt. Dann habe ich im Radio ein Hörspiel gehört, das war monologisch geschrieben, und die bekannte Sprecherin und Schauspielerin Gisela von Collande sprach das. Da habe ich gedacht: Das kann ich auch, und ich habe ‚Die Sekretärin‘ geschrieben. Und eines Tages rief der NDR an und meinte, sie senden es, und die Sprecherin sei Gisela von Collande. Danach habe ich „Die Bittgänger“ geschrieben, über zwei Musiker ohne Geld. Hörspiele waren damals ganz gut bezahlt.

Für Ihr Hörspiel „Der Minotaurus“ haben Sie den wichtigsten Preis der Branche gewonnen, den „Hörspielpreis der Kriegsblinden“.
Ja, der Minotaurus, da ging es um das Thema Abtreibung, die 1960 noch strafbar war. Ich habe dem Hörspiel einen offenen Schluss gegeben, aber das war dem Sender nicht recht, auch wenn ihnen das Stück an sich gefiel. Geändert habe ich das nicht, und sie haben es dann doch gesendet, und ich habe den Preis gewonnen und in meiner Rede über das Thema ‚Offener Schluss‘ gesprochen. Ich finde, ein Schriftsteller soll sich eben nicht anmaßen, Modell-Lösungen zu liefern und den Lesern zu sagen, wie etwas sein soll. Von dem Preisgeld habe ich mir mein erstes Auto gekauft, einen VW-Käfer.

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Vor knapp zwei Jahren tauchten Vorwürfe gegen Sie auf, nach denen es Belege über eine Mitgliedschaft in der NSDAP geben soll. Allerdings fand sich offenbar kein unterschriebener Antrag von Ihnen. Sie selbst sagten damals dem ZEITmagazin: „Vor diesen braunen Leuten habe ich nur Abscheu empfunden. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, dass ich irgendetwas unterschrieben hätte. Ich war nicht Mitglied der NSDAP. Ich hätte ja verrückt sein müssen, am Ende des Krieges einzutreten. Wem hätte ich damit gefallen wollen können?“ Zitatende.
Der Historiker Hans Mommsen hat sehr einleuchtend beschrieben, wie komplex die Strukturen im NS-Regime waren, und wie sehr sich diese Strukturen verselbständigt haben. Jeder Gauleiter war gewissermaßen ein König, der in Konkurrenz zu den anderen stand. Da wurden dann auch gerne Fehlmeldungen nach oben weitergeleitet, also es wurden zum Beispiel einfach Neueintritte gemeldet. Hitler selbst hatte ja auch keine klare Linie mehr. Was ich aus meiner Zeit als Soldat noch weiß, habe ich vor kurzem auf drei CDs aufgenommen.

Wie haben Sie Köln als Kind und Jugendlicher erlebt?
Wenn wir damals aus Grevenbroich nach Aachen oder Hennef fuhren, dann fuhren wir immer durch Köln. Auf der Rückfahrt spät abends ließ ich mich immer wecken, ich wollte die Großstadt sehen, wenn wir über die Ringe fuhren. Für mich war das anfangs eine fremde Stadt, diese katholische Metropole. Nach dem Krieg habe ich dann die zerbombte Stadt erlebt. In meiner Bonner Zeit an der Universität musste ich in Köln Hauptbahnhof immer aussteigen und bis zum heutigen Schokoladenmuseum laufen. Dort ging dann die Straßenbahn nach Bonn. Am Tag nach meiner Promotion 1952 war ich oben auf dem Dom, und auch da sah die Stadt immer noch übel aus.

Was bedeutet Ihnen die Südstadt?
Das ist für mich so ein städtisches Wohnzimmer, das wirkt wie ein Dorf. Mein normaler Rundgang führt mich in den Römer- und den Friedenspark, mit dem Rheinauhafen habe ich mich noch nicht so recht angewärmt. In einer Wohnung im Siebengebirge, die ich mir einmal angesehen habe, gibt es nur zwei natürliche Beleuchtungsquellen, also vorne und hinten, ansonsten gibt es nur künstliches Licht. Zum Essen gehen meine Frau und ich ins Capricorn i Aries, ins Fonda, aber auch ins KAP und ins Limani. In der Südstadt gibt es sehr viel humane Qualität. Viele Menschen grüßen mich, allerdings bin ich dabei meistens der Ältere.

Lesen Sie auch Teil I – „Das leben ist eine riskante Angelegenheit“

Text: Jörg-Christian Schillmöller

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